Tausendschön
sich ein tiefer Abgrund auf, der sie bei lebendigem Leibe zu verschlingen drohte. Schon hier in der Wohnung machte sie jeden Schritt so vorsichtig, als traute sie dem Fußboden nicht.
Zwei Tage war es her, dass sie aus den Zeitungen erfahren hatte, dass ihre Familie tot war, wahrscheinlich ermordet. An die ersten Stunden danach konnte sie sich kaum erinnern. Als der Cafébesitzer sie hatte zusammenbrechen sehen, hatte er resolut sein Geschäft für den Rest des Tages geschlossen und sie mit nach Hause genommen. Dort hatten er und seine Frau sie aufs Sofa gelegt und die ganze Nacht abwechselnd bei ihr Wache gehalten. Das Weinen war wild und zügellos gewesen, die Trauer unmöglich zu ertragen.
Am Ende rettete sie die Angst. Denn was ihrer Familie zugestoßen war, tauchte ihre eigene Lage in ein neues Licht. Jemand versuchte methodisch und systematisch, ihr Leben und ihre Vergangenheit zu tilgen und ihre Familie zu vernichten. Der Gedanke daran, was die Motivation für eine solche Tat sein könnte, erschreckte sie. Und mit dem Schrecken und der Angst kam eine neue Rationalität, die sie zwang zu handeln.
Als am Sonntagmorgen die Sonne über Bangkok aufging, war sie gefasst. Und sie wusste genau, was sie zu tun hatte.
Der Hintergrund der Tragödie, die sie durchleben musste, war ihr unbekannt, doch sie begriff, dass ihr eigenes Verschwinden ein wichtiger Teil der Operation war. Man inszenierte nicht ohne Grund ein Albtraumszenario, das sowohl eine Verschwörung als auch einen Mord enthielt. Intuitiv nahm sie an, dass die Geschehnisse mehr gegen sie selbst und ihren Vater gerichtet waren als gegen ihre Mutter und die Schwester. Das lag wahrscheinlich an ihrem gemeinsamen Interesse an Flüchtlingsfragen. Möglicherweise waren die Reise, die sie unternommen hatte, und die Fakten, die sie gesammelt hatte, entscheidend. Fakten, die inzwischen allerdings verloren waren.
Alles war vergebens, dachte sie im Stillen. Einfach alles.
Dass sie keine persönlichen Dokumente und Habseligkeiten mehr besaß, hatte den Schlepper, an den sie sich um Hilfe gewandt hatte, abgeschreckt.
» Haben Sie sich etwas zuschulden kommen lassen?«, hatte er besorgt gefragt. » Dann kann ich Ihnen nicht helfen.«
Sie waren sich zum ersten Mal begegnet, als sie gerade nach Bangkok gekommen war. Sie hatte die Spur der Flüchtlinge nachverfolgt und herausgefunden, wie das Unternehmen in Thailand funktionierte. Es kam ihr sowohl unsinnig als auch unbegreiflich vor, dass Menschen, die aus dem Nahen Osten flohen, über Thailand nach Europa einreisten. Es hatte mehrere Tage gedauert, das Vertrauen des Mannes zu gewinnen und ihn davon zu überzeugen, dass sie nicht von der Polizei, sondern in eigener Sache im Land unterwegs war.
» Warum sollte sich eine Pfarrerstochter für solche Fragen engagieren?«, hatte er höhnisch gefragt.
» Weil sie ein Teil des Aufnahmesystems in Schweden ist«, hatte sie mit gesenktem Blick geantwortet. » Weil ihr Vater jahrelang Flüchtlinge versteckt hat und weil sie selbst in seine Fußstapfen tritt.«
» Und was halten Sie dann von mir?«, hatte er mit großer Skepsis gefragt. » Im Unterschied zu Ihnen mache ich das hier kaum aus einem anderen Grund, als dass ich Geld verdienen will.«
» Was ja nur verständlich ist«, hatte sie geantwortet, obwohl sie da ihre Zweifel hatte. » Schließlich nehmen Sie ein großes Risiko auf sich, und es drohen Ihnen hohe Strafen. Da ist es nur legitim, dass Sie auch entsprechend entlohnt werden wollen.«
So hatte sie sein Vertrauen gewonnen und Zugang zu seiner Welt erhalten. Wie ein diskreter Schatten war sie ihm gefolgt, hatte Passfälscher und Verkäufer von Reiseunterlagen getroffen, Menschen, die subversiven Tätigkeiten auf Flughäfen nachgingen, und Personen, die Verstecke anmieteten. Das Netzwerk war unauffällig, aber weitläufig, und immer von einer korrupten Polizeimacht bedroht, die halbherzige Versuche unternahm, die Machenschaften zu unterbinden. Und mitten unter all diesen Menschen waren diejenigen, um die sich alles drehte: Menschen auf der Flucht, einem im Grunde kriminellen Netzwerk ausgeliefert, ohne Hoffnung, mit leerem Blick und Jahren von Chaos und Zerfall hinter sich.
Sie hatte fotografiert und dokumentiert, hatte sich einen Übersetzer besorgt und mit einer Reihe von Leuten gesprochen. Sie hatte erklärt, dass sie ein gerechtes Bild aller Beteiligten erstellen wolle, dass die Unwissenheit in Schweden groß sei und dass alle davon profitieren würden,
Weitere Kostenlose Bücher