Tausendschön
wenn das ganze Ausmaß des Elends bekannt würde. Denjenigen, die an der Flucht verdienten, versprach sie Anonymität und lockte sie mit indirekter Publizität und einer wachsenden Nachfrage nach ihren Diensten. Als könnten sie noch gefragter sein, als sie es schon waren. Als gäbe es eine andere Stelle, an die sich die Menschen in Not wenden konnten.
Bangkok war ihre letzte Station gewesen. Begonnen hatte sie ihre Reise in Griechenland, einem der größten Transitländer Europas, wo sie dokumentiert hatte, wie die Asylsuchenden den europäischen Kontinent erreichten und wie sie behandelt wurden. Von dort war sie weiter in die Türkei und nach Damaskus und Amman gereist. In Syrien und Jordanien befanden sich weit über zwei Millionen irakischer Flüchtlinge. Ihre Möglichkeiten waren verschwindend gering – denn wenn sie nach Hause zurückkehren müssten, würden sie zu Binnenflüchtlingen: ohne Zuhause und ohne feste Anlaufstelle. Von den Millionen Flüchtlingen reiste ein kleiner Anteil nach Europa weiter. Die Methoden, dorthin zu kommen, schienen unendlich zu sein, doch die meisten wählten den Landweg über die Türkei.
Sie hatte eine Familie auf dem Weg dorthin begleitet.
Als sie von den Hoffnungen gehört hatte, die diese Menschen für ihr neues Leben in Schweden hegten, waren ihr die Tränen gekommen. Sie träumten auf eine Weise, die man bestenfalls unrealistisch nennen konnte, von einer neuen und strahlenden Zukunft, von Arbeit und guten Schulen für die Kinder. Von Häusern und Gärten und einer Gesellschaft, die sie willkommen hieß.
» In Schweden braucht man Arbeitskräfte«, hatte der Mann im Brustton der Überzeugung gesagt. » Deshalb sind wir zuversichtlich, dass sich alles richten wird, wenn wir nur erst dorthin kommen.«
Doch wie die meisten Menschen mit Einblick in die Sachlage wusste sie, dass sich nur sehr wenige der Erwartungen erfüllen würden und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Familie apathisch, zur Passivität verdammt, in einer kleinen Wohnung in irgendeinem gottverlassenen Vorort saß und auf den Bescheid der Einwanderungsbehörde wartete, der sich erst verzögern und dann als Absage entpuppen würde. Und dann würde die Flucht erst richtig beginnen. Die Flucht vor der Abschiebung.
Damals hatte sie ihren Vater zu Hause angerufen und am Telefon geweint und ihm gesagt, dass sie nun endlich verstand, was ihm damals das Herz so schwer gemacht hatte, als er sich in diesem trostlosen Kampf für die Rehabilitation der Menschen engagierte.
Und jetzt saß sie selbst in einem Unterschlupf in Bangkok und war auf der Flucht vor einem Feind, dessen Namen sie nicht einmal kannte. Das Einzige, was ihr Herz wärmte, war, dass sie es damals geschafft hatte, jenes Telefongespräch mit ihrem Vater zu führen.
Wenn sie an ihre Reise zurückdachte, wurde ihr klar, dass es mit den letzten Wochen zusammenhängen musste und dass sich hier möglicherweise die Erklärung für die Katastrophe fand, die über sie hereingebrochen war. Es war die Rede gewesen von einem neuen Fluchtweg aus dem Irak, aus Syrien und Jordanien nach Schweden. Kleine Satzfetzen. Niemand hatte Näheres darüber sagen können. Doch das, was ihr zu Ohren gekommen war, stimmte mit all dem überein, was ihr Vater in Schweden erfahren hatte. Es schien einen neuen Akteur auf der Bühne zu geben, der nach eigenen Wertvorstellungen und gegen kleinere Summen agierte. Jemand, der eine einfache Methode anbot, nach Europa zu kommen, sofern man schwor, vor der Abreise keine Silbe über das Arrangement verlauten zu lassen. Was natürlich doch ab und zu jemand getan hatte, und deshalb war das Geheimnis jetzt schon nicht mehr ganz so geheim.
Die neuen Wege verliefen weitestgehend über etablierte Routen, via Bangkok oder Istanbul. Und immer mit dem Flugzeug, niemals auf dem Landweg. Das hatte ihr zu denken gegeben, denn es war viel riskanter, jemanden auf dem Luftweg als über Land zu schmuggeln. Auf der anderen Seite schien das neue Netzwerk nur eine sehr kleine Anzahl Klienten zu versorgen. Keiner von ihren Gesprächspartnern kannte selbst jemanden, der schon gereist war, sondern konnte immer nur vom Hörensagen berichten.
In Istanbul war sie schon zwei Mal gewesen, und Bangkok war als Abschluss der Reise ohnehin verlockend gewesen. Also war sie in einem letzten Versuch, mit jemandem in Kontakt zu kommen, der mit der neuen Organisation zusammenarbeitete, dorthin gereist. Sie hatte intensiv gesucht, aber nichts Wesentliches
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