Tausendundeine Stunde
Mantel geholfen und mir den Stuhl zurechtgerückt? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern. Eigentlich legte ich auf solche Dinge auch gar keinen Wert. Oder doch? Hatte ich es nur verlernt, diese Gesten als angenehm zu empfinden? Er hatte eine angenehme Art und ein hübsches Lächeln. Er bestand darauf, meine Rechnung zu übernehmen. Ich versprach, mich beim nächsten Mal zu revanchieren. Sein „Okay“ sagte mir, dass er an einem nächsten Mal interessiert war. Draußen auf der Straße griff er nach meiner Hand. Das überraschte mich.
„Wenn du möchtest, fahre ich dich gern nach Hause“, bot er mir an, aber ich bestand darauf, mit der Straßenbahn nach Hause zu fahren. Mir gefiel der Mann, weil er mir gefiel, wollte ich nicht das Risiko eingehen, dass es nur eine gemeinsame Nacht geben würde und sonst nichts. Ich ließ mir seine Telefonnummer geben und gab ihm zum Abschied einen Kuss auf die Wange.
Drei Tage später trafen wir uns beim Griechen.
Das war von mir nicht gut überlegt. Unser erster Kuss schmeckte nach Zwiebel und Knoblauch. Was uns nicht davon abhielt, nach jedem fünften Schritt stehen zu bleiben und uns zu küssen. Es war eine romantische und sternenklare Nacht. Leon zeigte mir Kassiopeia, legte dabei seinen Arm um meine Schultern und zog mich an sich heran. Ich fühlte mich an seiner Seite zehn Jahre jünger, einfach gut. Seine Wohnung war nett eingerichtet und penibel sauber. Eigentlich hoffte ich, dass er mich sofort in die Arme nehmen und verführen würde. Stattdessen bat er mich zum Rauchen auf die Terrasse zu gehen und er würde inzwischen das Sofa herrichten. Ich beobachtete ihn durch das Terrassenfenster. Offensichtlich hatten hier noch nicht viele Frauen übernachtet. Er tat sich mit dem „Sofa herrichten“ recht schwer und entschuldigte sich wegen der Bettwäsche, die noch von Mutti wäre. Wahrscheinlich lag es an Muttis Bettwäsche, dass wir einen sehr artigen Beischlaf ausübten. Nach zwanzig Minuten war alles vorbei. Er drehte sich zur Seite und schlief gleich ein. Und ich war putzmunter, in einer fremden Wohnung, hatte weder eine Zahnbürste noch Wäsche zum Wechseln mit. Am liebsten wäre ich aufgestanden und nach Hause gefahren. Whisky würde mich sowieso vermissen. Gegen Morgengrauen schlief ich endlich ein. Als ich aufwachte lächelte er mich nett an und entschuldigte sich schon wieder. Seine Semmeln wären ausgegangen und ob ich mit Cornflakes zufrieden wäre. Eigentlich hatte ich gehofft, dass er noch einmal zu mir ins Bett kommt. Als ich allerdings in seinem Bad stand und mich im Spiegel betrachtete verstand ich, warum er es nicht tat. Ich sah furchtbar aus. Die Wimperntusche war verlaufen, ich hatte Augenschatten und sah müde und stark überholungsbedürftig aus. Kurze Zeit später saß ich ihm gegenüber. Ich fühlte mich unwohl und schwor, nie wieder bei ihm zu übernachten, wenn ich nicht meine wichtigsten Utensilien bei mir hätte. So ungeschminkt fühlte ich mich nackt. Außerdem hatte ich Blähungen. Beim ersten Schluck Kaffee machte ich eine Erfahrung: Leon liebte nicht nur Blümchensex, sondern auch Blümchenkaffee. Was war mit diesen jungen Männern los? Da stand er: Schultern wie ein Schwerathlet, Waschbrettbauch und einen Hintern zum Verlieben. Leon war eine Mogelpackung. Super Umhüllung, fader Inhalt. Nach dem Frühstück fuhr er mich nach Hause. Er versprach, mich anzurufen. Whisky sah mich vorwurfsvoll an. Sein Fressnapf war regelrecht blank geleckt. Ich wollte ihn streicheln, aber er tippelte mit erhobenem Schwanz und tief beleidigt schnurstracks in die Küche und wich nicht von meiner Seite, bis sein Napf gefüllt war.
Caroline hatte mir auf meinen Anrufbeantworter mit verheulter Stimme die Nachricht hinterlassen, dass sie von ihrem Martin wieder verlassen worden war. Wann wird sie endlich die Kraft aufbringen und sich von diesem Mann lösen?
Am Abend rief Dietrich an. Darüber freute ich mich riesig.
„Schön, dass Sie sich melden“, sagte ich „dabei sollte ich mich darüber gar nicht freuen.“
„So, warum denn nicht?“
„Ich hatte Ihnen doch von diesem jungen Mann erzählt, den ich beim Tanzen kennengelernt hatte. Ich habe mich mit ihm nun schon mehrmals getroffen und wir haben auch miteinander geschlafen.“
„Das ist doch schön für Sie, genießen Sie es.“
„Ich kann es nicht genießen, denn ich empfinde Ihnen gegenüber mehr Zuneigung als zu Leon, so heißt der junge Mann. Ich dachte, zwischen uns beiden entwickelt sich
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