Tausendundeine Stunde
Fall eine aufregendere Nacht gehabt als ich und darum beneidete ich sie ein wenig. Nachdem sie ihre Erzählung beendet hatte, fragte sie, ob etwas zwischen Leon und mir laufen würde. Als ich ihr erzählte, dass wir uns am Freitag treffen werden, rügte sie mich: „Du musst den Männern immer das Gefühl geben, dass sie unheimlich um dich baggern müssen. Wenn du gleich zusagst, ist das ein totgeborenes Kind. Ich verschiebe diesen ersten Termin immer mindestens zweimal. Wie sieht denn das aus, wenn du gleich einwilligst? Da wissen die gleich, dass du es nötig hast. Also, ich rate dir, den Termin zu verschieben.“
„Was ist denn das für ein Quatsch?“, fragte ich gereizt. „Außerdem habe ich gar keine Telefonnummer von ihm. Ehrlich gesagt, sind mir deine Strategien zu anstrengend.“
Doris klang verschnupft: „Ich habe damit bisher nur gute Erfahrungen gemacht.“
„So gut können die nicht sein, sonst würdest du ja nicht mehr zum Singletanz rennen, oder?“
Was tat ich denn da? Ich ließ meinen ganzen Frust über Wollinger an Doris aus. Als mir das klar wurde, lenkte ich ein. „Tut mir leid, Doris, ich bin heute etwas bissig. Wahrscheinlich war bisher der Richtige eben noch nicht dabei und wenn du gute Erfahrungen damit gemacht hast, ist das okay für dich. Vielleicht ist ja dieser Henryk der Richtige und dann hat sich deine Strategie ja tatsächlich gelohnt. Ich bin, was das Singleleben anbelangt, etwas aus der Übung. Wenn man jung ist, ist das alles nicht so kompliziert. Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt schon bereit bin, eine neue Beziehung einzugehen. Ich fürchte, ich bin nur deshalb auf der Suche, weil ich nicht allein sein kann. Ich bin richtig froh, dass ich dich und Nele kennengelernt habe. Das mit Leon ist sowieso ein totgeborenes Kind, denn er ist wesentlich jünger als ich. Ehrlich, ich habe keine Lust, mir teure Antifaltencreme zu kaufen und jedes Mal einen Ausraster zu kriegen, wenn ihn eine jüngere anstiert. Das wird passieren, denn er sieht ja wirklich gut aus. Hast du dir seinen knackigen Hintern angeguckt? Und die Schultern? Ich denk, ich werde mit ihm in die Kiste springen und das war’s.“ Völlig übergangslos fragte ich sie: „Glaubst du, dass man sich in jemanden verlieben kann, den man noch gar nicht gesehen hat?“
„Puuh, vergiss mal nicht Luft zu holen. Weißt du, das Problem mit dem nicht allein sein können hatte ich auch. Das haben wohl die meisten. Das ist bestimmt so ein Evolutionsding, das wir seit den Affen mit uns herumschleppen. Das liegt so in unseren Genen. Wir brauchen ganz einfach einen Beschützer und einen Versorger.“
„Willst du mir damit sagen, dass wir einem kollektiven Gruppenzwang unterliegen, der uns suggeriert, dass wir allein nicht überleben können? Und dass wir dagegen nichts tun können, weil es in unseren Genen liegt?“
Leider konnten wir nicht weiterreden, dabei war es gerade spannend geworden. Ihr Henryk kam zu Besuch. Doris gab mir noch auf den Weg, nicht gleich mit Leon ins Bett zu gehen und wünschte mir einen schönen Abend. Den verbrachte ich wie Tausende andere Singlefrauen. Ich hockte vor dem Fernseher, stopfte Schokolade in mich hinein und tat mir selber leid. Kurz vor Mitternacht rief Wollinger an.
„Hallo, Juliane. Es tut mir leid, dass ich Sie gestern mit einem schlechten Gefühl ins Bett gehen ließ.“
Was wusste dieser Mann von meinen Gefühlen? Nein, die Frage stellte sich anders: Wieso ahnte der Mann, dass ich mich nach unserem kurzen Gespräch so mies gefühlt hatte? Als ob er Gedanken lesen könnte, sagte er: „Sie haben eine verräterische Stimme. Ihr Tschüss klang so resolut. Ja, es klang, als ob es das letzte Tschüss sein sollte. Es wäre eine Katastrophe, wenn ich Sie verlieren würde.“
„Aha“. Mehr konnte ich nicht sagen. Ich war froh, dass er sich meldete.
„Juliane, sind Sie noch dran?“
„Ja natürlich. Wissen Sie, Dietrich, ich finde das zwischen uns beiden merkwürdig.“
„Merkwürdig?“ Er zog das Wort absichtlich in die Länge und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Es kommt darauf an, wie Sie es interpretieren. Etwa im Sinne von eigenartig? Oder verwunderlich? Empfinden Sie es als abwegig?
Oder befremdlich? Oder doch als bemerkenswert.“
„Oh, Sie lieben es zu philosophieren? Ich auch. Ich entscheide mich für bemerkenswert. Ich meine, ich kenne Sie gar nicht und dennoch sind Sie mir so nah. Ich habe das Gefühl, als würden wir uns hundert Jahre kennen. Vielleicht
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