Tea-Bag
Taschenlampe strich über die Plakate, die an der Wand klebten. Boxer mit drohendem Blick sahen ihn an. Er folgte ihr. Sie machte Licht.
- Das Licht könnte vielleicht draußen zu sehen sein?
- Nicht einmal in Schweden dringt Licht durch zugenagelte Fenster.
Sie sprach langsam, suchte nach jedem Wort, wie ein Blinder eine sichere Stelle sucht, um seinen Fuß darauf zu setzen.
Er hörte, daß ihre Stimme einen Klang wie eine Glocke hatte, spröde und bestimmt zugleich.
- Jemand kann uns beobachtet haben.
- Niemand hat uns gesehen.
Jesper Humlin dachte an den umfangreichen Schlüsselbund und das Brecheisen, das sie aus dem Stiefel gezogen hatte.
- Hast du schon öfter Türen aufgebrochen?
Er hörte selbst, wie idiotisch die Frage klang. Aber es war zu spät, sie zurückzunehmen. Tanja ließ sich auf den Stuhl sinken, auf dem sie bei ihrem ersten Treffen gesessen hatte. Sie legte ihre Jacke und den Rucksack ab, den er erst jetzt entdeckte, strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht und legte ihren Notizblock und einen Stift vor sich hin. Sie ist bereit anzufangen, dachte Jesper Humlin. Was mache ich jetzt?
Dann erkannte er, daß er soeben die Einleitung zu etwas erlebt hatte, was eine Erzählung werden könnte. Im Kopf machte er sich ein paar Notizen. Dunkelheit, Taxi, Boxklub, Tanja, Einbruch, ein leerer Saal mit zugenagelten Fenstern. Hier nimmt eines Nachts eine große Erzählung über die schwedische Gegenwart ihren Anfang. Er zog seinen Mantel
aus und nahm seinen Platz ein. Sie folgte ihm wachsam mit ihrem Blick.
- Du hast ein Herz gezeichnet, begann er. Wessen Herz? Statt zu antworten, machte sie den Rucksack auf und schüttete den Inhalt auf den Tisch. Erstaunt betrachtete er die Dinge, die sich da türmten. Es war ein Sammelsurium aus Miniaturikonen und Tannenzapfen, zerrissenen Kinokarten, Schnullern, einem Dosenöffner, einem Prisma aus einem Lüster und zwei braunen Umschlägen. Tanja schob ihm die Umschläge hin. Er verstand, daß er sie lesen sollte. Als er einen der Umschläge nahm, schlug sie irritiert mit der Hand auf den Tisch. Er zog den anderen Umschlag zu sich heran und nahm das Papier heraus. Es war ein Bescheid von der Ausländerbehörde.
Die Ausländerbehörde hat bei der ordentlichen Versammlung am 11. August 1997 beschlossen, Ihren Einspruch
betreffs
Bewilligung
einer
permanenten Aufenthaltsgenehmigung in Schweden abzulehnen.
Der Brief war an Inez Liepa gerichtet, und die Ablehnung wurde damit begründet, daß sie ihrem untertänigen Antrag auf Asyl in Schweden nachweislich falsche Angaben sowohl ihren Namen als auch ihre Nationalität betreffend zugrunde gelegt hatte. An den Rand hatte jemand einige Herzen gekritzelt, aus denen Blut oder Tränen tropften. Jesper Humlin nahm an, daß es nicht der zuständige Beamte war, von dem die Zeichnungen stammten.
Er nahm den zweiten braunen Umschlag. Er war von der Polizeibehörde in Västerås, die mitteilte, daß die Person, die angab, Inez Liepa zu heißen und russische Staatsbürgerin zu sein, am 14. Januar 1998 aus Schweden ausgewiesen werden sollte. Jesper Humlin legte das Papier weg. Sie beobachtete ihn wachsam. Gibt es unter diesen Menschen keinen, bei dessen Namen ich mir sicher sein kann, dachte er. Erst Tea-Bag, die vielleicht Florence hieß, und nun Inez, die sich Tanja nennt. Er konnte seine Empörung nicht verbergen.
- Wir haben in diesem Land Gesetze und Bestimmungen. Wenn du einen falschen Namen angibst, kannst du natürlich nicht damit rechnen, daß du bleiben darfst. Warum sagst du nicht, wie es wirklich ist?
- Was sagen?
- Wie du heißt. Ist es Inez oder Tanja?
- Ich heiße Natalia.
- Natalia? Hast du einen dritten Namen? Tanja, Inez und jetzt Natalia?
- Ich habe nur einen richtigen Namen. Natalia.
- Und du bist aus Rußland?
- Ich bin in Smolensk geboren.
- Aber Liepa klingt estnisch. Du müßtest aus Riga sein.
- Riga liegt in Lettland.
- Das habe ich gemeint. Ich habe mich versprochen. Lettland, nicht Estland.
- Es gibt viele Länder auf der Welt. Die kann man leicht verwechseln.
Er sah sie an, ohne feststellen zu können, ob sie das ironisch meinte oder nicht. Seine Irritation wuchs.
- Vielleicht kannst du mir auf meine Frage antworten? Welches dein richtiger Name ist und woher du eigentlich kommst? Außerdem möchte ich gerne wissen, wo Tea-Bag wohnt. Ich mache mir Sorgen um sie.
Sie antwortete nicht. Er betrachtete die Dinge, die auf dem Tisch lagen.
- Wenn du willst, kannst du erzählen, warum
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