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Tea-Bag

Tea-Bag

Titel: Tea-Bag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Plötzlich stand sie auf, Jesper Humlin dachte, sie wäre wieder auf dem Sprung zu verschwinden.
    - Wo kann ich dich erreichen?
    - Du kannst mich nicht erreichen.

Sie blieb zögernd mitten in der Küche stehen. Jesper Humlin ahnte, daß er den Augenblick nutzen sollte, um einige der wichtigsten Fragen zu stellen, die ihn beschäftigten.
    - Du sagst, du willst nicht, daß ich dich irgendwas frage. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob das wahr ist.
    Vielleicht ist es eigentlich umgekehrt. Du willst, daß ich frage. Nimm es mir nicht übel, aber es gibt einige Dinge, die ich gern wüßte. Immerhin hast du einmal hier übernachtet. Du und ich waren unterwegs nach Göteborg, als du plötzlich ausgestiegen bist. Du hast mir davon erzählt, wie du hier in dieses Land gekommen bist. Meiner Freundin hast du eine etwas andere Geschichte erzählt. Aber bestimmt hängen sie zusammen. Ich verstehe, daß du es schwer hast.
    Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen.
    - Ich habe es nicht schwer. Jesper Humlin nahm es zurück.
    - Aber ganz leicht hast du es bestimmt auch nicht.
    - Wie meinst du das?
    - Unter einer Kirche zu leben. Ihr Lächeln war erloschen.
    - Du weißt nichts über mich.
    - Stimmt.
    - Es braucht einem nicht leid zu tun um mich. Ich bin kein Opfer. Ich hasse Mitleid.
    Tea-Bag zog die dicke Steppjacke aus und legte sie auf den Boden. Ihre Bewegungen waren langsam.
    - Ich habe einen Bruder, sagte sie. Ich hatte einen Bruder.
    - Ist er tot?
    - Ich weiß nicht.
    Jesper Humlin wartete. Dann kamen nach und nach die Worte, zögernd, tastend, als suche sie nach einer Geschichte, die sich nur langsam und mit äußerster Vorsicht zum Ausdruck bringen ließ.
    »Ich habe einen Bruder. Obwohl er tot ist, muß ich immer an ihn denken, als würde er noch leben. Er wurde im selben Jahr

geboren, in dem ich alt genug geworden war, um zu begreifen, daß Kinder nicht einfach über Nacht kamen, wenn ich schlief, und auch keine alten Leute waren, die sich im Wald versteckten, mit einem Gott sprachen und dann als Neugeborene zurückkehrten. Er war der erste von meinen Geschwistern, von dem ich wirklich wußte, daß er aus dem Leib meiner Mutter gekommen war.
    Mein Bruder erhielt den Namen Mazda, weil am Tag zuvor ein Lastwagen dieser Marke außerhalb des Dorfes umgekippt war und mein Vater zwei große Säcke Maismehl von der Ladung nach Hause geschleppt hatte. Mein Bruder Mazda, der jeden Morgen mit dem ersten Hahnenkrähen zu schreien anfing, lernte schon mit sieben Monaten laufen. Davor war er schneller gekrabbelt als irgendeines von den Kindern, die meine Mutter geboren hatte, oder irgendeines, das sie vom Hörensagen kannte. Er war genauso schnell über den Sand gekrabbelt, wie eine Schlange sich ringelt. Dann richtete er sich plötzlich auf, als er sieben Monate alt war, und lief los. Er ging nie, er fing sofort an zu laufen, als wüßte er, daß seine Zeit auf Erden, als Lebender, knapp bemessen war. Seine Füße konnten Bewegungen ausführen, die niemand je zuvor gesehen hatte.
    Alle merkten, daß Mazda etwas Besonderes war. Er würde nicht so werden wie wir anderen. Aber niemand konnte wissen, ob es ihm im Leben gut oder schlecht ergehen würde. In dem Jahr, als er sechs wurde, trocknete der Fluß aus, es fiel kein Regen, die Erde war braun, mein Vater saß immer häufiger auf dem Dach und schrie gegen seine eingebildeten Feinde an, meine Mutter sprach überhaupt nicht mehr, und wir gingen oft hungrig zu Bett.
    Da geschah es eines Morgens, als wir am Himmel vergeblich nach Vorboten des Regens gesucht hatten, daß die Frau mit den blauen Haaren die Straße entlang ins Dorf geschlendert kam. Niemand hatte sie je zuvor gesehen. Sie lächelte und

wiegte sich, als wäre eine unsichtbare Trommel in ihrem Körper verborgen, die für sie einen Rhythmus schlug, damit sie dazu tanzte. Und sie war nicht einfach eine Fremde aus einem anderen Dorf, sie mußte von weither gekommen sein, da niemand ihre Tanzschritte kannte. Aber sie sprach unsere Sprache, und Glitzerstaub fiel von ihren Händen, und sie blieb auf dem offenen Platz mitten im Dorf stehen, genau neben dem Baum, in dessen Schatten mein Vater und die anderen Männer sich versammelten, um die Probleme zu lösen, die immer in Dörfern entstehen, in denen Menschen so dicht beieinander leben.
    Sie stand ganz still und wartete, jemand lief zu meinem Vater und den anderen Männern und sagte, eine fremde Frau mit blauen Haaren sei eingetroffen. Mein Vater machte sich auf und

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