Tee macht tot
sich doch alles etwas langsamer abspielte. Die Bewegungen passten allerdings nicht recht zur Sprechgeschwindigkeit, denn hektisch quasselten sie auf die langsame Gerda ein.
„Kann sie ihr vielleicht sagen, wo Frieda ist?“, fragte Ingrid hektisch, als sie ihren Rollstuhl vor dem Tisch ausrollen ließ.
Gerda hob ihren runden Kopf und musterte Ingrid mit runden Knopfaugen. „Nein“, schüttelte sie langsam ihren Kopf, während sie sich ein Stück Brot in den Mund drückte. Frieda, der Name kommt sicherlich von Frieden, überlegte sie dabei vor sich hin. Ja, ja, der Frieden. Apropos Frieden ...!, fiel ihr in dieser Gedankenfolge ein. Sie hatte Frieda mit Agatha zusammen gesehen, was alles andere als friedlich sein dürfte.
„Also hast du sie nicht gesehen?“, herrschte Reinhold sie an.
Verwundert starrte Gerda ihn an. So kannte sie ihn gar nicht. „Vielleicht doch“, erwiderte sie. „Bei dem Wort 'Frieden' fällt mir nämlich ein, dass ich Frieda gesehen habe. Wenn mich nicht alles täuscht, war Agatha dabei. Aber ins Treppenhaus ist Frieda allein gegangen, weil Agatha umgedreht ist.“ Bei dem Wort umgedreht, überlegte sie, ob sie vielleicht eine Seite des Brotes mit Himbeermarmelade bestreichen sollte und die andere mit Erdbeermarmelade. Sie freute sich sehr über ihren Geistesblitz.
Beunruhigt machten die drei Suchenden wieder kehrt. Das war immerhin ein Anhaltspunkt, mit dem man etwas anfangen konnte, wenngleich kein guter.
Gerda blieb am Tisch sitzen.
Esther, Reinhold und Ingrid machten sich auf den Weg zum Haupteingang, dabei nahmen sie sich vor, Agatha gehörig den Kopf zu waschen. Dass Agatha Kenntnis davon hatte, dass Frieda ins Treppenhaus gegangen war und sie es nichts gesagt hatte, ließ auf bösartige Absicht schließen.
Während sich einige Senioren hinkend, schlurfend und schleppend in den Park aufmachten, um Frieda dort zu suchen, begaben sich Esther, Reinhold und Ingrid auf den Weg zum Besucherparkplatz.
Reinhold war sich sicher, dass irgendwo seine Frieda saß und auf ihn wartete. Sie setzte sich immer zum Warten.
„Frieda! Liebste Frieda“, rief er unentwegt.
32
Auf dem Friedhof machte Frieda sich langsam Sorgen. Sie begriff, dass sie sich ungeschickterweise auf ein böses Spiel eingelassen hatte.
Dunkle Regenwolken zogen auf und breiteten sich rasch über den ganzen Himmel aus. Die Luft roch bereits nach Regen, als mit einem Male ein starker Wind aufkam. Erbarmungslos fegte er über die Gräber hinweg, entwurzelte Stiefmütterchen, blies die Grablichter aus, schmetterte sie gegen Grabsteine und ließ sie achtlos liegen.
Hilflos blickte sich Frieda um. In welche Richtung sollte sie nur gehen? Abrupt setzte auch schon der Platzregen ein. Innerhalb einer weiteren Minute ging der Regen in Hagel über. Die Tropfen klopften so fest auf ihre Haut, dass der kleinen Frieda ganz schwindlig wurde. Innerhalb von Minuten war sie völlig durchnässt, und der stärker werdende Wind hängte sich wie ein trotziges Kind an ihre Beine.
Den Kopf auf den Weg gesenkt, drückte sie sich mit aller Kraft, die man ihren dünnen Beinchen gar nicht zugetraut hätte, durch den von Grabsteinen gesäumten Weg. Um sich die Angst zu nehmen, las sie im Vorbeigehen die Inschriften. „In stillem Gedenken an Johanna Meier“, flüsterte sie. „In liebevoller Erinnerung an Hans-Herrmann Fuchs“ … „Wir trauern um Laura und Fritz Becker“, las sie und blieb gegen den Wind gestemmt stehen, um das Grablicht wieder aufzustellen. Das Ehepaar Becker kannte sie. Das war das nette Paar aus dem zweiten Stock gewesen. Mit Herrn Becker hatte ihr geliebter Reinhold manchmal zum Kartenspielen zusammengesessen, während sie sich mit Frau Becker in der Häkelgruppe an einem Topflappen versuchte. Leider hatte Frau Becker den Topflappen nie fertig stellen können, da sie noch währenddessen ihrem Krebsleiden erlag. Es war herzzerreißend gewesen. Vier Donnerstage später folgte ihr Herr Becker. Sein Kummer über den Verlust seiner Frau ließ ihn kaum mehr schlafen. In zweiter Ehe war er erst spät glücklich geworden, und so bat er um Esther Friedrichsens Tee. Natürlich hatten sie ihm diesen nicht verweigert, schließlich war ihnen allen klar gewesen, dass eine Ehe auch über den Tod hinaus weitergeführt werden konnte. Vorher hatte er sich allerdings noch Ringe anfertigen lassen, die die Ewigkeit überdauern sollten. Im Jenseits wollte er seiner Frau den Ring überstreifen und sie bitten,
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