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Teeblätter und Taschendiebe

Titel: Teeblätter und Taschendiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte MacLeod
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Augenblick, als sich die alte Dame mit der inzwischen arg mitgenommenen Tragetasche in die entgegengesetzte Richtung auf einen Blumenladen mit Bleiglasfenstern zubewegte.
    Als die schlecht beschuhte Wanderin schließlich ihren Weg über die Cross Street zurück zur Washington Street in Richtung North Station fortsetzte, folgte ihr wieder der gutaussehende jüngere Mann. Unser unbeteiligter Beobachter, falls es ihn wirklich gab, hätte den Mann jedoch möglicherweise nicht wiedererkannt, da ihm in der Zwischenzeit ein dichter Schnurrbart gesprossen war. Außerdem hatte er seinen eleganten maßgeschneiderten grauen Kammgarnanzug gegen eine haarige grüne Tweedhose und ein noch haarigeres Jackett in einem unattraktiven Senfton mit großen grünen Karos vertauscht. Sein welliges dunkles Haar war fast völlig unter einem iri-schen Schlapphut verschwunden, ebenfalls aus Tweedstoff, wenn auch anders gemustert und weniger haarig.
    Der junge Mann war zusätzlich mit einer eindrucksvollen Kameraausrüstung ausgestattet, die an unterschiedlich langen und breiten Lederbändern baumelte. Diesmal schien er die Alte tatsächlich bemerkt zu haben. Im Schutz eines strategisch günstig gelegenen Hauseingangs schoß er sogar mehrere Fotos von ihr, als sie sich nach einer achtlos fortgeworfenen Traubenlimo-Dose bückte. Noch während er auf den Auslöser drückte, sprang ein ungehobelter Kerl, der einen lila Jogginganzug und lila Laufschuhe trug, blitzschnell auf die Straße, schoß die Dose mit einem gezielten Fußtritt brutal unter der ausgestreckten Hand der Alten fort und ließ die arme Frau verwirrt und erschrocken allein in der Gosse hockend zurück. Der Fotograf spendierte ihr daraufhin einen Vierteldollar und entfernte sich wieder, um nach fotogeneren Motiven Ausschau zu halten.
    Als der ältere Herr schließlich wieder auf der Bildfläche erschien, hatte er sich noch drastischer verändert als der junge Mann. Der Besuch beim Broker war offenbar eine Katastrophe gewesen und schien sein Leben völlig aus der Bahn geworfen zu haben. Vielleicht hatte der Ärmste sich verspekuliert, auf jeden Fall befand er sich inzwischen in einem überaus beklagenswerten Zustand.
    Ein genauer Kenner der menschlichen Psyche hätte möglicherweise den Schluß gezogen, daß der Mann den fatalen Entschluß gefaßt hatte, seinen schweren Verlust durch den Erwerb eines Ladens für Secondhand-Möbel zu kompensieren, der bereits Verlust machte und auch weiter Verlust machen würde. Jetzt schlich er gesenkten Hauptes über den Bürgersteig und schien versunken in einen inneren Dialog.
    Vielleicht überlegte er gerade, ob die künstlichen Wurmlöcher, die er in die nachgemachte Renaissance-Tischplatte gebohrt und dann auf das relativ gut erhaltene Unterteil einer ansonsten demolierten und ebenfalls unechten Sheraton-Kommode befestigt hatte, ihm helfen könnten, jemandem das Ganze als echte Antiquität an-zudrehen - fragte sich nur, wie er sein Kunstwerk nennen sollte. Jedenfalls überholte er die inzwischen zweifellos fußlahme Obdachlose, ohne sich anmerken zu lassen, ob er sie wiedererkannt hatte oder nicht. Die Alte ignorierte ihn ebenfalls und betrat mit ihrer inzwischen gut gefüllten Tasche das Senior Citizens' Recycling Center.
    Und so ging es immer weiter, bis der Tag sich neigte und die Frau völlig erschöpft war. Inzwischen besaß sie ebenfalls eine SCRC-Tragetasche, gab sich jedoch keine sonderliche Mühe mehr, sie zu füllen. Schließlich näherte sie sich derselben öffentlichen Damentoilette, aus der sie am Morgen gekommen war. Man hätte glauben können, sie sei der einzige Zufluchtsort, den sie kannte. Sozusagen als Krönung des langen, trostlosen Tages wurde sie zu guter Letzt auch noch von einem ungehobelten, schäbig gekleideten Mann angerempelt, der eine wollene Kapuzenmütze trug, obwohl das Wetter zu dieser übertriebenen Kopfbedeckung kaum Anlaß gab. Der Mann trug zufällig ebenfalls eine SCRC-Tragetasche. Nach einem kurzen Gerangel und dem Austausch einiger entschuldigender Worte, griffen beide nach ihren Taschen und gingen ihrer Wege.
    Tatsächlich verschwand die Alte in der Toilette, kam jedoch nicht wieder zum Vorschein. Statt dessen erschien die stattliche Dame mit dem pflaumenblauen Turban und den hübschen schwarzen Pumps wieder auf der Bildfläche, nahm ihre pflaumenfarbenen Handschuhe aus der schwarzen Ledertasche und zog sie sich an.
    Anscheinend hatte die geheimnisvolle Fremde einen neuen Verehrer, denn der ungehobelte

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