Tempel der Unsterblichen
der andere die Wahrheit sprach -, dann war dies die einzige Möglichkeit. Denn nur ihr Vater vermochte von draußen nach drinnen zu gehen, wie es ihm beliebte. Nur er besaß den Schlüssel - oder was immer es ihm auch ermöglichte, die Barriere zu durchdringen.
»N-nein, es ist - eine Frau«, antwortete der Priester zitternd. »Oder eher wohl - eine Bestie ...!«
»Was heißt das?« fragte nun Cuyo ungehalten.
»Seht selbst.«
Mit matter Geste wies der Priester in Richtung des Palastes.
Ohne ein weiteres Wort stürmten die Vampire los, die von Stelen gesäumte Freitreppe hinauf und in den Palast hinein.
Der Weg zu der mysteriösen Besucherin wurde ihnen gewiesen.
Sie brauchten nur der Spur des Todes zu folgen.
Es war kaum möglich zu sagen, wie viele Priester ihr Leben gelassen hatten, wohl in dem Versuch, die Fremde aufzuhalten. Ihre Leiber waren verheert und zerrissen, die Farbenpracht ihrer Gewänder in Blut ertrunken.
Zapata erreichte den Saal, in dem sie erwartet wurden, als erster. So abrupt blieb er stehen, daß die anderen gegen ihn prallten. Doch dann, als auch ihre Blicke in den Saal fielen, erstarrten auch sie mitten in der Bewegung - - weil es ihnen unmöglich schien, daß es sich bei der jungen Frau dort um jene Bestie handeln konnte, die das Massaker unter der Priesterschaft angerichtet hatte!
Sie sah so - unschuldig aus, so verletzlich. Und im gleichen Maße auch bezaubernd und schön.
Endlich fand zumindest Zapata seine Sprache wieder.
»Wer bist du? Und was willst du? Wie kommst du hierher?«
Die Fremde lächelte wissend. »Eine Menge Fragen, die du hast. Welche soll ich zuerst beantworten?«
Der Vampir öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber eine rasche Handbewegung der jungen Frau ließ ihn innehalten.
»Ich entscheide selbst, worauf ich antworte, wenn du gestattest«, sagte sie.
»Nun?«
»Euer Vater schickt mich.«
»Vater?« wiederholte Zapata ungläubig. »Aber -«
»Du glaubst mir nicht?« fragte die Fremde. »Du wirst es wohl müssen - wie sonst, wenn er mir nicht die Erlaubnis und Macht gegeben hätte, wäre ich wohl durch die Barriere gelangt?«
Dagegen konnte weder Zapata noch einer der anderen etwas sagen. Es mochte also durchaus Wahres an den Worten der jungen Frau sein.
»Warum kommt er nicht selbst?« fragte Pomona.
»Oh, er wird kommen«, lautete die Antwort. »Aber er schickte mich voraus, als Botschafterin sozusagen.«
»Und welche Botschaft bringst du, davon abgesehen, daß du uns die Rückkehr unseres Vaters ankündigst?« hakte Pomona nach. Die Nachricht, daß ihr Vater endlich, nach all der Zeit wieder zu ihnen kommen wollte, zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen und stimmte sie versöhnlich, wie auch ihre Geschwister.
»Das will ich euch sagen«, begann die Fremde, und dann tat sie kund, was ihr aufgetragen worden war.
Was sie zu sagen hatte, ließ Verwirrung in den Zügen der Vampire zurück. Aber sie zweifelten nicht daran. Zu vieles in den Worten der Fremden und auch in dem, was sie nicht wirklich ausgesprochen hatte, überzeugte sie davon, daß sie tatsächlich eine Gesandte ihres Vaters war.
»Wer bist du? Verrate uns deinen Namen«, bat Zapata. Etwas von der Ehrfurcht, die er vor seinem Vater hatte, klang in seiner Stimme mit.
Und der Blick der Fremden zeigte deutlich, daß ihr diese Art der Ehrerbietung über die Maßen gefiel.
»Mein Name ist Nona. Und ich hätte nichts dagegen, wenn wir uns einander noch näher vorstellen würden - du und ich.«
Ihre Stimme war pure Verheißung.
*
Sydney, Australien
Sie lag auf dem Bett, und Landru, der stundenlang auf sie eingeredet hatte, studierte ihr ins Dunkel eingebettete Gesicht, das nicht einmal im Schlaf seine Anspannung verlor.
Der uralte Vampir mit den graumelierten Schläfen stand in der Tür, die aus dem Schlafzimmer führte. Überall in der Wohnung roch es nach Tod.
Die Schulter an den kühlen Holzrahmen gelehnt, die Beine überkreuzt und die Arme vor der Brust verschränkt, harrte Landru aus. Die tiefe Nacht und die herrschende Stille ermöglichten es seinen Gedanken, mit einer Leichtigkeit zu fliegen wie lange nicht mehr.
Alle Last schien von ihm abgefallen. Er fühlte sich wie neugeboren. Erinnerungssplitter aus Jahrtausenden huschten an seinem geistigen Auge vorbei.
Einst hatten er und die seinen im Uruk der sumerischen Zeit die Menschen regiert. Später war er dann als Hüter wiedererstanden, mit dem Auftrag, vampirisches Leben über die Erde zu säen. Tausend Jahre lang hatte
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