Temptation: Weil du mich verführst
Leidenschaft mit etwas Tiefergehendem verwechselte?
Der Gedanke quälte sie, deshalb schob sie ihn immer wieder beiseite, wenn sie mit ihm zusammen war. Er sollte die wunderbaren Augenblicke ihres Zusammenseins nicht zerstören. Es war der reinste Drahtseilakt – ein ständiger Kampf, auf dem schmalen Grat ihrer leidenschaftlichen Affäre das Gleichgewicht zu wahren, in der ständigen Sorge, in die Tiefe zu stürzen, Ian zu verlieren … oder von ihm verlassen zu werden.
An einem kühlen Spätherbstabend kam der Wendepunkt.
Francesca war im Atelier, um letzte Hand an das Gemälde anzulegen. Schließlich ließ sie den Pinsel sinken und betrachtete mit angehaltenem Atem die winzige schwarze Gestalt auf der Leinwand – ein Mann mit wehenden schwarzen Trenchcoatschößen, der allein am Fluss entlangging, den Kopf gesenkt, um sich gegen den eisigen Wind zu schützen, der vom Lake Michigan herüberwehte.
Würde Ian bemerken, dass sie ihm ein weiteres Mal einen Platz in einem ihrer Gemälde gegeben hatte? Irgendwie musste es so sein, dachte sie, als sie den Pinsel mit einem Lappen abwischte. Schließlich hatte er sich in den vergangenen Wochen in so gut wie jedem Bereich ihres Lebens einen Platz erobert.
Überwältigt betrachtete sie ihr Werk.
Fertig!
Sie hatte es sich zur Tradition gemacht, keinen Pinselstrich mehr an einem Bild zu malen, nachdem sie dieses Wort erst einmal im Geiste ausgesprochen hatte. Sie hastete aus dem Atelier, um sich auf die Suche nach Ian zu machen. Es war Sonntag, deshalb hatte er beschlossen, in der Bibliothek zu arbeiten, statt ins Büro zu fahren.
Gerade als sie um die Ecke bog, hörte sie, wie die Tür geöffnet wurde und leise, angespannte Stimmen durch den Korridor drangen – ein Mann und eine Frau.
»… ein Grund mehr für mich, schnell zu handeln, Julia«, sagte Ian.
»Ich muss noch einmal betonen, dass es keine Garantien gibt, Ian. Nur weil gerade eine auffallend positive Phase herrscht, bedeutet das noch lange nicht, dass es langfristig auch so bleibt, aber das Institut setzt große Hoffnungen …«, hörte sie die Frau mit britischem Akzent sagen.
Die Stimme wurde leiser, als Ian die Frau den Korridor hinunter zum Aufzug führte, doch es gelang ihr zumindest, einen Blick auf sie zu erhaschen. Es war die attraktive Frau, mit der Ian sich zum Frühstück in Paris getroffen hatte – die Freundin der Familie, wie er sie bezeichnet hatte. Wieder sank ihr Mut, als sie die spannungsgeladene Atmosphäre zwischen den beiden registrierte; genauso wie damals in der Hotellobby, als sie sich unbeobachtet gefühlt hatten. Und genauso wie an diesem Tag zog sie sich zurück, ohne dass die beiden sie bemerkten.
Sie wusste nicht, wieso, aber ihr war klar, dass es Ian unangenehm wäre, wenn er wüsste, dass sie sie beobachtet hatte, wenn sie ihn mit Fragen bombardieren und ihm signalisieren würde, dass sie sich um ihn kümmern, ihm beistehen wollte.
Obwohl sie sich nichts mehr ersehnte als das.
Sie kehrte ins Atelier zurück, um ihren Arbeitsplatz aufzuräumen und alles sauberzumachen. Und um sich ein wenig zu sammeln. Schließlich machte sie sich ein weiteres Mal auf die Suche nach ihm, konnte ihn jedoch nirgendwo entdecken.
Sie ging in die Küche, wo Mrs Hanson die Arbeitsfläche schrubbte.
»Ich suche Ian«, sagte sie. »Das Bild ist fertig.«
»Oh, das sind ja wunderbare Neuigkeiten!«, rief Mrs Hanson. »Aber ich fürchte, Ian ist nicht hier. Es gab einen Notfall, deshalb musste er für eine Weile verreisen.«
Francesca fühlte sich, als hätte ihr jemand mit dem Vorschlaghammer einen Hieb auf die Brust versetzt. »Ich … ich verstehe nicht ganz. Er war doch gerade noch hier. Ich habe ihn mit dieser Frau gesehen …«
»Dr. Epstein? Sie haben sie gesehen?« Mrs Hanson schien überrascht zu sein.
Dr. Julia Epstein. So hieß sie also. »Ich habe gesehen, wie sie gegangen ist. Was ist das für ein Notfall? Ist mit Ian alles in Ordnung?«
»Aber ja, meine Liebe. Machen Sie sich um ihn keine Sorgen.«
»Wo ist er hin?«, bohrte Francesca, noch immer ungläubig und zutiefst gekränkt, dass Ian einfach weggegangen war, ohne ins Atelier zu kommen und sich von ihr zu verabschieden.
»Das weiß ich nicht genau …«, antwortete Mrs Hanson und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu, offenbar sorgsam darauf bedacht, Francesca nicht in die Augen sehen zu müssen.
»Wissen Sie es tatsächlich nicht, oder behaupten Sie das nur, weil Ian es gesagt hat?«
Die Haushälterin starrte sie
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