Temptation: Weil du mich verführst
mehr unter Dauerbeobachtung durch meine Eltern stand.«
Mrs Hanson gab ein verständnisvolles Schnauben von sich. »Sie meinen, nachdem der ständige Kampf ums Gewicht erst mal vorüber war, hatte all das Fett seinen Daseinszweck verloren?«
Sie grinste. »Sie würden eine erstklassige Psychologin abgeben, Mrs Hanson.«
Die Haushälterin lachte. »Aber wie wären dann Lord Stratham oder Ian zurechtgekommen?«
Francesca, die die Tasse an den Mund geführt hatte, hielt mitten in der Bewegung inne. »Lord Stratham?«
»Ians Großvater, James Noble, der Earl of Stratham. Ich habe dreiunddreißig Jahre lang bei Seiner Lordschaft im Dienst gestanden, bevor ich vor acht Jahren nach Amerika gekommen bin, um für Ian zu sorgen.«
»Ians Großvater«, murmelte Francesca nachdenklich. »Wer wird seinen Titel eines Tages erben?«
»Oh, ein Mann namens Gerard Sinoit, Lord Strathams Neffe.«
»Nicht Ian?«
Seufzend legte Mrs Hanson ihren Scone auf den Teller. »Ian ist der Erbe von Lord Strathams Vermögen, aber nicht seines Titels.«
Verwirrt runzelte Francesca die Stirn. Diese Engländer hatten weiß Gott merkwürdige Gepflogenheiten. »War Ians Mutter oder Vater das Kind der Nobles?«
Ein Schatten legte sich über Mrs Hansons Züge. »Ians Mutter. Helen war das einzige Kind des Earls und der Countess.«
»Aber sie ist …« Francesca ließ die Stimme verklingen, und Mrs Hanson nickte betrübt.
»Ja. Sie ist sehr jung gestorben. Ein kurzes, sehr tragisches Leben.«
»Und Ians Vater?«
Mrs Hanson schien hin und her gerissen zu sein. »Ich bin nicht sicher, ob ich darüber reden sollte.«
Francesca wurde rot. »Oh, natürlich. Bitte entschuldigen Sie. Ich wollte nicht neugierig sein. Ich dachte nur …«
»Ich habe Ihre Frage nicht als aufdringlich empfunden, keine Sorge.« Mrs Hanson tätschelte ihr beschwichtigend die Hand. »Ich fürchte nur, Ians Familiengeschichte ist trotz seines beruflichen Erfolgs und Vermögens ziemlich traurig. Seine Mutter war eine recht aufmüpfige junge Dame – sehr wild. Es gelang den Nobles nicht, sie in den Griff zu bekommen«, erklärte Mrs Hanson mit einem vielsagenden Blick. »Mit achtzehn oder neunzehn ist sie von zu Hause weggelaufen und galt über zehn Jahre als vermisst. Die Nobles hatten schreckliche Angst, sie könnte tot sein, aber es fanden sich niemals Beweise dafür. Also haben sie immer weiter nach ihr gesucht. Das war eine sehr schwere Zeit für den gesamten Haushalt.« Schmerz flackerte auf Mrs Hansons Zügen auf. »Die Herrschaften haben Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um sie zu finden.«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen.«
Mrs Hanson nickte. »Es war eine schreckliche Zeit, sehr, sehr schrecklich. Und es wurde nicht viel besser, als sie Helen schließlich in einer Art Bretterverschlag in Nordfrankreich aufgestöbert haben. Fast elf Jahre waren vergangen. Sie war nicht bei klarem Verstand, hat nur wirres Zeug geredet. Niemand hat aus ihr herausbekommen, was passiert ist. Bis heute ist all das ein einziges großes Rätsel. Und sie hatte Ian bei sich. Er war zehn Jahre alt, wirkte aber wie ein Neunzigjähriger.«
Mrs Hanson gab einen erstickten Laut von sich. Eilig sprang Francesca von ihrem Hocker und trat zu ihr.
»Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht aufregen«, sagte sie, neugierig und zugleich besorgt um die reizende Haushälterin. Sie griff nach einer Schachtel Papiertaschentücher und reichte sie der älteren Dame.
»Schon gut, ich bin ein sentimentales altes Weib«, wiegelte Mrs Hanson ab und zupfte ein Taschentuch aus der Schachtel. »Die meisten Leute würden sagen, dass die Nobles nur meine Dienstherren sind, aber für mich sind sie mehr als das. Sie sind meine Familie. Die einzige, die ich habe.« Schniefend tupfte sie sich die Wangen trocken.
»Mrs Hanson. Was ist hier los?«
Die strenge Männerstimme ließ Francesca zusammenzucken. Sie drehte sich um und sah Ian im Türrahmen stehen.
Mrs Hanson sah sich schuldbewusst um. »Ian, Sie sind ja schon zu Hause.«
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er und musterte sie besorgt. Francesca wurde bewusst, dass Mrs Hansons Erklärung über die familiäre Bindung offenbar für beide Seiten galt.
»Es geht mir gut. Bitte, machen Sie sich wegen mir keine Gedanken«, versuchte sie ihn mit einem unbeschwerten Lachen zu beruhigen und warf das Papiertaschentuch in den Müll. »Sie wissen doch, wie rührselig alte Frauen sein können.«
»Ich habe Sie ganz bestimmt noch nie rührselig erlebt«, gab
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