Temptation: Weil du mich verführst
trinken zu holen. Der Raum erinnerte sie an die typisch englischen Landhausküchen: Er war riesig und mit sämtlichen Annehmlichkeiten ausgestattet, dennoch verströmte er eine herrliche Behaglichkeit. Sie liebte es, mit Mrs Hanson hier zu sitzen und zu plaudern.
»Es war ja so still. Ich habe gar nicht gemerkt, dass Sie hier sind«, rief die ältliche Haushälterin.
»Ich habe gearbeitet«, gab Francesca zurück und trat vor den riesigen Edelstahlkühlschrank. Mrs Hanson hatte ihr gleich am ersten Tag eingebläut, sich wie zu Hause zu fühlen. Als sie das erste Mal den Kühlschrank geöffnet hatte, war ihr beim Anblick des Regals voller Mineralwasserflaschen und des mit Frischhaltefolie abgedeckten Tellers voll Zitronenscheiben die Luft weggeblieben. »Ian hat gesagt, Sie trinken am liebsten Mineralwasser mit einer Zitronenscheibe. Ich hoffe, die Marke schmeckt Ihnen«, hatte Mrs Hanson besorgt gesagt.
Wann immer sie seitdem den Kühlschrank öffnete, spürte sie dieselbe Wärme in ihrem Innern wie an jenem ersten Tag, als ihr bewusst geworden war, dass Ian sich ihr Lieblingsgetränk gemerkt hatte.
Wie jämmerlich , dachte sie nun und nahm eine Flasche heraus.
»Möchten Sie etwas essen?«, erkundigte sich Mrs Hanson. »Es wird noch eine Weile dauern, bis Ian zu Abend isst, aber das braucht Sie ja nicht daran zu hindern.«
»Nein, ich bin nicht hungrig. Trotzdem danke.« Sie zögerte. »Das heißt, Ian ist in der Stadt? Kommt er später her?«, platzte sie heraus.
»Ja, er hat heute Morgen gesagt, dass er kommt. Normalerweise muss sein Essen um Punkt halb neun Uhr abends auf dem Tisch stehen, ob nun hier oder im Büro. Ian legt großen Wert auf seine Gewohnheiten; schon seit er ein kleiner Junge war.« Mrs Hanson sah sie an. »Wieso setzen Sie sich nicht und leisten mir ein bisschen Gesellschaft? Sie sehen so blass aus, meine Liebe. Sie arbeiten zu viel. Ich setze Wasser auf und mache uns eine schöne Tasse Tee.«
»Okay.« Francesca setzte sich auf einen Barhocker vor der Kücheninsel. Nun, da ihr kreativer Adrenalinschub abebbte, fühlte sie sich etwas wacklig auf den Beinen. Außerdem hatte sie in den letzten beiden Nächten nicht sonderlich viel Schlaf bekommen.
»Wie war Ian denn als Junge?« Sie konnte sich die Frage nicht verkneifen.
»Oh, in meinem ganzen Leben habe ich noch nie so eine alte Seele mit einem so jungen Gesicht gesehen«, gab Mrs Hanson mit einem betrübten Lächeln zurück. »Er war sehr ernst. Und geradezu beängstigend klug. Ein bisschen schüchtern, aber wenn er einen erst einmal ins Herz geschlossen hatte, war er herzzerreißend süß und loyal.«
Francesca versuchte sich den ernsten, dunkelhaarigen, scheuen Ian vorstellen. Allein beim Gedanken daran zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen.
»Sie machen den Eindruck, als wären Sie ein wenig verstimmt«, stellte Mrs Hanson fest, goss heißes Wasser in zwei Tassen und arrangierte Geschirr und Besteck auf einem Silbertablett: zwei Scones, zwei silberne Teelöffel und Messer, zwei perfekt gebügelte Leinenservietten, Clotted Cream und köstlich aussehende Marmelade. Alles in Ian Nobles Haushalt wurde mit Stil zelebriert, selbst wenn es nur ein Schwätzchen bei einer Tasse Tee in der Küche war. »Kommen Sie gut mit Ihrem Bild voran?«
»Ja, es läuft ganz gut. Danke«, murmelte sie, als Mrs Hanson Tasse und Untertasse vor ihr abstellte. »Sie können es sich nachher gern mal ansehen, wenn Sie wollen.«
»Gern. Möchten Sie einen Scone? Heute sind sie besonders lecker. Es geht nichts über einen Scone mit Cream und Marmelade, um die schlechte Laune zu vertreiben.«
Francesca lachte und schüttelte den Kopf. »Meine Mutter würde auf der Stelle tot umfallen, wenn sie das gehört hätte.«
»Wieso denn?« Mrs Hanson, die ihren Scone mit Marmelade bestrichen hatte, hielt mitten in der Bewegung inne. Ihre blauen Augen weiteten sich.
»Weil Sie mich ermutigen, meine Stimmungen mit Essen zu kompensieren. Meine Eltern und etwa ein halbes Dutzend Kinderpsychologen haben mir seit meinem siebten Lebensjahr die Gefahren des Trostessens eingebläut.« Sie registrierte Mrs Hansons bestürzte Miene. »Ich war als Kind ziemlich dick.«
»Nie im Leben. Sie sind doch gertenschlank!«
Francesca zuckte die Achseln. »Als ich aufs Internat kam, purzelten die Pfunde innerhalb von ein, zwei Jahren wie von selbst. Ich fing mit dem Laufen an, was vermutlich auch geholfen hat. Aber wenn Sie mich fragen, lag es in erster Linie daran, dass ich nicht
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