Tempus (German Edition)
abschreiben?«
»Welch törichte Frage!« Lucius rümpfte die Nase. »Selbstverständlich auf Papyrus. Ich sagte doch, dass ich meine Bibliothek erweitern will. Hast du weitere Fragen?«
»Nein.« Ich musste mich sehr zusammenreißen, um freundlich zu bleiben. Lucius’ arrogantes Benehmen stellte mich auf eine harte Probe.
»Gut, das wäre geregelt.« Lucius klatschte in die Hände und rief nach Kleon, der umgehend erschien.
»Ja, Herr?«
»Ist der Brief an Titus auf dem Weg?«
»Ja, Herr!«
»Sehr gut. Geleite das Mädchen in die Bibliothek. Zeig ihr die Rollen, die ich mir gestern ausgeliehen habe. Sie wird sie für mich kopieren.«
»Sehr wohl, Herr!« Kleon verneigte sich und dirigierte mich mit seinen Augen aus dem Raum heraus.
Ein Traum wird Wirklichkeit
Lucius’ Bibliothek befand sich nur zwei Zimmer weiter. Es war ein dunkler Raum voller Regale, in denen sich unzählige Papyrusrollen stapelten. Unterhalb des einzigen Fensters standen zwei mit Schnitzereien und Metallbeschlägen versehene Holztruhen sowie mehrere Krüge, in denen weitere Schriftrollen steckten. Gleich daneben entdeckte ich einen Tisch.
»Was soll ich abschreiben?« Fragend sah ich mich um.
Kleon öffnete eine Truhe, nahm eine Rolle heraus und reichte sie mir. »Dieses Buch.«
»Und womit schreibe ich?«
Kleon öffnete die andere Truhe und fischte ein unbeschriebenes Papyrusblatt heraus. »Sei achtsam damit. Papyrus ist wertvoll. Farbe und eine Rohrfeder lasse ich dir gleich bringen«, brummte er und verschwand.
Ich ging zu dem Tisch am Fenster und entrollte das Schriftstück, das ich kopieren sollte. Es bestand aus mehreren zusammengeklebten Blättern, war mindestens zehn Meter lang und mit einfachen Zeichnungen versehen, von denen ich nicht wusste, ob ich sie auch kopieren sollte und vor allem, ob ich es überhaupt konnte. Zeichnen gehörte nicht unbedingt zu meinen Stärken. Unschlüssig betrachtete ich die Illustrationen, als Neilos die Bibliothek betrat.
»Das soll ich dir bringen.« Er stellte ein Gefäß mit schwarzer Farbe auf den Tisch und legte einen aus Schilfrohr gefertigten Stift daneben, der am Ende spitz zulief. Das musste die Rohrfeder sein, von der Kleon gesprochen hatte. »Wenn du noch etwas brauchst, lass es mich wissen.«
»Danke, Neilos.« Ich lächelte ihn an, aber er warf mir nur einen düsteren Blick zu und verließ den Raum. Zum Schreiben hatte ich jetzt alles, was ich benötigte, blieb nur die Frage, was ich mit den Zeichnungen machen sollte. Ich raffte meine Tunika und lief aus der Bibliothek, um Lucius nach den Illustrationen zu fragen. Auf dem schummerigen Gang, der zu seinem Arbeitszimmer führte, prallte ich gegen einen Körper. Zwei kräftige Arme umfassten mich.
»Elina!«
Ich hatte schon beinahe vergessen, wie seine Stimme klang. Ein streichelnder Wind in den Gräsern, der meine guten Vorsätze, ihm möglichst gleichgültig zu begegnen, einfach davonblies.
»Was machst du hier?« Marcius strahlte mich an.
»Ich arbeite für deinen Vater«, erwiderte ich und versuchte, ihm nicht in die Augen zu sehen. Es war schon so schwierig genug, klar zu denken.
»Du arbeitest? Hier? – Das will ich sehen!« Marcius lachte fröhlich auf und schob mich zurück in die Bibliothek. »Was genau sollst du machen?«
»Dein Vater hat mich gebeten, dies abzuschreiben.« Ich tippte auf die Rolle, die auf dem Tisch lag. Neugierig beugte sich Marcius darüber und las halblaut vor:
»Erster Gesang:
Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus,
Ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte,
Und viel tapfere Seelen der Heldensöhne zum Aïs
Sendete, aber sie selbst zum Raub darstellte den Hunden,
Und dem Gevögel umher. So ward Zeus Wille vollendet:
Seit dem Tag, als erst durch bitteren Zank sich entzweiten
Atreus Sohn, der Herrscher des Volks, und der edle Achilleus.« 1
Ohne aufzublicken murmelte er: »Sieh an, eine Übersetzung der Ilias . Mein Vater möchte also zusätzlich zu seiner griechischen auch noch eine lateinische Version haben.« Marcius richtete sich auf und lächelte mich an. »Du kannst schreiben? – Natürlich kannst du es! Welch eine Frage!«
Ich wurde rot unter seinem Blick. »Du kennst den Text?«, erkundigte ich mich, um irgendetwas zu sagen.
»Die Ilias ? Ja, mein Lehrer hat mich damit gequält.«
»Was ist die Ilias ?«
»Ein Werk des griechischen Dichters Homer. Es handelt vom Zorn, der Götter und Menschen ereilt. Schauplatz ist der Trojanische Krieg,
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