Teranesia
Leiter seitlich ausbrechen wollte. Er riskierte einen kurzen Blick ins Gesicht seiner Mutter, die nur geradeaus starrte. Dann konzentrierte er sich wieder auf die zweite Kiste. Ein Holzbrett hätte sich vielleicht tief genug durchgebogen, um die Kisten auseinander zu drücken, wenn die Kräfteverteilung durch die Krümmung umgelenkt wurde, aber die Leiter war dazu viel zu steif. Sie würde problemlos das Gewicht zweier Erwachsener aushalten, davon war er nun überzeugt.
Seine Mutter legte eine Pause ein. Prabir beobachtete ihre Füße, als sie links einen weiteren Schritt machte und sich dabei ein Stück herumdrehte, in Richtung seines Vaters. Langsam ging sie in die Hocke, dann streckte sie eine Hand nach ihm aus. Die Leiter hing etwa einen halben Meter über dem Boden, sodass sie gerade sein Gesicht mit den Fingerspitzen berühren konnte.
»Rajendra?«
Er bewegte leicht den Kopf.
»Ich bin zu hoch, um dich von hier aus anheben zu können. Du musst dich ein Stück aufrichten.«
Sein Vater antwortete nicht. Prabir stellte sich vor, wie er sich aus dem Sand erhob, ihren Armen entgegen, wie der Wassermann, der den Wellen entstieg. Aber nichts geschah.
»Rajendra?«
Plötzlich stieß sein Vater einen schluchzenden Laut aus und hob eine Hand, mit der er ihren Unterarm berührte. Sie fasste seine Hand. »Gut so, Liebling. Sehr gut.«
Sie drehte sich zu Prabir um. »Ich will versuchen, mich zu setzen, damit ich Baba auf die Leiter heben kann. Aber dann kann ich vielleicht nicht mehr mit ihm aufstehen, um ihn zu tragen. Wenn ich ihn auf der Leiter liegen lasse und zurückgehe, meinst du, dass wir beide dann die Leiter mit Baba darauf zum Ende des Gartens tragen können – wie auf einer Trage?«
Prabir antwortete ohne Zögern. »Ja. Das können wir schaffen.«
Seine Mutter wandte für einen Moment zornig den Blick ab. »Ich möchte, dass du darüber nachdenkst«, sagte sie dann. »Ich möchte wissen, ob du es wirklich für möglich hältst.«
Prabir gehorchte einsichtig. Die Hälfte des Gewichts seines Vaters. Mehr als das Doppelte von Madhusrees Gewicht. Er glaubte, dass er stark genug war. Aber wenn er sich etwas vormachte und die Leiter fallen ließ…
»Ich weiß nicht genau«, antwortete er, »wie weit ich ihn tragen kann, ohne mich auszuruhen. Aber ich könnte die Kiste mitnehmen, sie mit einem Fuß über den Boden schieben. Dann kann ich die Leiter zwischendurch auf der Kiste ablegen.«
Seine Mutter dachte darüber nach. »Gut. So werden wir es machen.« Sie lächelte ihm halbherzig zu, eine Kurzfassung all der aufmunternden Worte, die jetzt zu viel Zeit in Anspruch genommen hätten.
Sie fasste die Leiter mit beiden Händen an den Seiten, stemmte sich ein kleines Stück hoch und brachte dann die Beine nach vorn, damit sie sich auf die Leiter setzen konnte. Sie befand sich immer noch in einer halb gedrehten Position. Dann knickte sie das rechte Bein unter dem Körper ein und verhakte ihren Fuß zwischen zwei Sprossen. Prabir drückte nervös den gegenüberliegenden Holm nach unten. Er hatte keine Möglichkeit, irgendeine Verschiebung im Kräftegleichgewicht vorauszuahnen, während seine Mutter ihr Gewicht verlagerte, aber er hatte allmählich das ungute Gefühl, dass die Leiter plötzlich zur Seite wegkippen konnte, wenn er nicht höllisch aufpasste.
Sie beugte sich vor und fasste seinen Vater mit ausgestreckten Armen unter den Achseln. Prabir hatte sich vorgestellt, wie sie seinen Vater einfach in die Arme nahm und ihn hochwuchtete – er hatte gesehen, wie sie auf diese Weise neunzig Kilo schwere Gasflaschen in ihrem Labor in Kalkutta bewältigt hatte. Aber nun wurde klar, dass sie dazu nicht nahe genug an ihn herankam. Sie holte ein paarmal tief Luft, dann versuchte sie ihn anzuheben.
Die geometrischen Verhältnisse konnten kaum ungünstiger sein. Es grenzte schon an ein Wunder, dass sie ihn überhaupt festhalten konnte, doch alles, was sie mit ihrem Körper unternehmen musste, um ihn zu erreichen, verringerte die wirksame Kraft, die sie einsetzen konnte. Prabir sah, wie der Fuß, den sie in die Leiter gehakt hatte, zuerst bleich wurde und sich dann violett verfärbte. Ein dunkler Laut drang aus ihrer Kehle, fast ein musikalisches Summen, als wollte sie einen unbeabsichtigten Schmerzensschrei unterdrücken, indem sie stattdessen diesen Ton sang, in dem sie bewusst all ihre Verärgerung und Entschlossenheit konzentrierte. Prabir hatte sie bisher nur einmal dabei erlebt, wie sie dasselbe getan hatte
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