Terra Madre
Leben bestimmen und es nach unseren eigenen, identitätsstiftenden Prinzipien und mit Respekt vor unserem gemeinsamen Haus gestalten, um frei zu sein und unserem Dasein einen Sinn zu geben. Wir müssen uns der Grenzen, innerhalb derer wir durch Anpassung echtes Glück finden können, bewusst sein.
In diesem Zusammenhang bekommt auch die Verantwortung, die wir gegenüber unserer Umgebung – angefangen bei unserem persönlichen Umfeld – haben, eine neue Bedeutung. Wir müssen wieder Herr über unsere Existenz werden und uns in allen Bereichen des öffentlichen Lebens aktiver engagieren. Nur so kann eine wahre teilnehmende Demokratie gelingen.
Heute stellt die Politik einen Fremdkörper in der Gesellschaft dar. Sie wird von einer geschlossenen Kaste beherrscht, von der sich die Bevölkerung nicht mehr vertreten fühlt. So wie das Fernsehen keine Programme mehr sendet, sondern unsere Hirne an die Werbung verkauft, und die Nahrungsmittelindustrie nicht einfach Lebensmittel anbietet, sondern unsere Freiheit und Genussfreude dem System opfert, so tut auch die Politik nichts anderes, als unsere Köpfe für ihre Zwecke zu verkaufen. Statt im Dienst der Gesellschaft zu stehen, befindet sie sich nur noch auf Stimmenfang und hintergeht die Massen. Nur durch Engagement und Regeln können wir unsere Selbstbestimmung wiedererlangen. Wir müssen wieder aktive Subjekte und nicht bloß Stimmvieh sein. Lassen wir uns auch in diesem Bereich nicht aufessen!
Entindustrialisierung der Lebensmittel
Die Lebensmittel sind der Schlüssel, um unser Leben wieder in die eigene Hand zu nehmen. Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen, ob wir nun in Armut oder Reichtum leben, auf dem Land oder in der Stadt wohnen, unabhängig auch von der Menge und Art der erzeugten Nahrungsmittel.
Wer der Denkweise verhaftet bleibt, die dazu geführt hat, dass die Lebensmittel uns essen, wird auch weiterhin unter dem gegenwärtigen System leiden, weil er es für das einzig mögliche oder sogar für das einzig richtige hält. Wir alle tragen mehr oder weniger – und oft auch gegen unseren Willen – dazu bei, dass das Unmenschliche und Nicht-Nachhaltige unseres Produktions- und Konsumverhaltens bestehen bleibt. Aber die Zeit ist reif für einen neuen Humanismus, für einen Neuanfang, der in unseren Köpfen beginnen muss. Wenn wir einen anderen Blickwinkel einnehmen, werden sich für sehr komplexe Probleme einfachere Lösungen finden, als man sich vorstellen kann.
Es genügt nicht, das gegenwärtige System bloß zu reparieren, denn es führt auf direktem Weg in den Abgrund. Was wir brauchen, ist eine Trendwende in unserer – aufgezwungenen – Beziehung zum Essen. Das Ganze ist äußerst komplex, aber wir dürfen uns nicht davor fürchten.
Im nächsten Kapitel wenden wir uns den dazu notwendigen Schritten zu, wobei wir von einem sehr offenen, flexiblen Modell zur Umstrukturierung der Welt der Lebensmittel ausgehen. Dieses Modell ist revolutionär, denn wir brauchen eine neue industrielle Revolution auf der Basis der Entindustrialisierung.
Die Welt der Lebensmittel zu entindustrialisieren bedeutet gleichwohl nicht, ihr Produktionspotenzial zu schwächen oder ihre Leistungsfähigkeit zu drosseln. Sie soll lediglich ihre natürliche Dimension zurückbekommen, in der sich die Menschen verwirklichen und die Früchte der Erde wirklich genießen können. Die Lebensmittel zu entindustrialisieren heißt, sie in die Hände jener zurückzulegen, die sie anbauen, aufziehen oder erlegen, sowie in die Hände jener, die sie auf verantwortliche Weise essen.
Entindustrialisierung heißt nicht, gegen das globale Lebensmittelsystem Krieg zu führen, sondern Alternativen zu schaffen. Das neue System soll nicht wieder von oben verordnet werden, es genügt vollkommen, den Lebensmittelbündnissen die Initiative zu überlassen, sie mit allen Mitteln zu fördern und zu unterstützen. Dies ist der erste Schritt, um wieder ein System lokaler Netzwerke auf gemeinschaftlicher, nachhaltiger Basis, kurz, ein menschliches System aufzubauen, in dem die Lebensmittel wieder »gut, sauber und fair« sind – und wir wieder selbstbestimmte »Souveräne« über unser Leben.
[ 1 ] Unter den vielen Definitionen für »Ernährungssouveränität« – »sovranità alimentare« – bevorzuge ich diejenige des »Manifesto sul futuro del cibo« (Manifest zur Zukunft der Lebensmittel), die von der Commissione Internazionale per il Futuro dell’Alimentazione e dell’Agricoltura
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