Terror auf Stiles Island
Begleitung durchstehen musste. Mit ein paar Drinks wäre der Abend vielleicht noch erträglich gewesen, doch auch die musste er sich wohl oder übel verkneifen – was ihm völlig gegen den Strich ging. Aber er war nun mal der Polizeichef und wusste genau, dass es ihm seine Arbeit erleichtern würde, wenn er am gesellschaftlichen Leben des Ortes teilnahm. Also war er hier.
Morris Comden, der Sprecher des Stadtrats, kam zur Bar, um einen Wodka Tonic zu bestellen und mit Jesse ein paar Takte zu plaudern.
»Immer eine tolle Party, nicht wahr, Jess?«
Comden war ein gedrungener, untersetzter Mann mit einem prominenten Kinn und tiefsitzenden Augen. Jesse hatte aus seinem Mund noch nie ein vernünftiges Wort gehört.
»Kann man wohl sagen, Morris.«
Jesse hasste es, Jess genannt zu werden.
»Schauen Sie sich nur die Damen in ihren schicken Ballkleidern an«, sagte Comden. »Wenn ich Junggeselle wäre wie Sie, würd ich gleich eine Handvoll von ihnen übers Parkett wirbeln, das versprech ich Ihnen.«
»Sie und Mrs. Comden wirbeln aber auch nicht schlecht«, sagte Jesse.
Mrs. Comden war eine schmallippige Frau, größer als ihr Gatte, die grundsätzlich auf Make-up verzichtete. In ihrem Gesicht spiegelte sich so etwas wie konstante Empörung wider. Den Comdens beim Tanzen zuzuschauen, dachte Jesse, war eigentlich die reinste Tortur.
»Läuft eigentlich was zwischen Ihnen und der kleinen Anwältin?«, fragte Comden, während er gleichzeitig an seinem Wodka nippte.
»Abby?«, sagte Jesse. »Sollte wohl nicht sein.«
Jesse drehte sein Glas langsam in den Händen. Je länger er den nächsten Schluck hinauszögerte, desto länger würde der Drink reichen. Comden kannte derlei Zurückhaltung anscheinend nicht, sondern hielt sich zügig an seinen Drink. Wenn Morris schnell war, dachte Jesse, könnte er sich vielleicht sogar noch einen zweiten Drink reinpfeifen, bevor er zurück an seinen Tisch musste. Jesse musste innerlich grinsen. Eingeweihte unter sich.
»Habe gehört, dass Ihre Ex an die Ostküste gekommen ist, um hier im Fernsehen zu arbeiten«, sagte Comden.
»Sie arbeitet bei den Wetternachrichten«, sagte Jesse, »bei Channel 3.«
»Sehen Sie sie gelegentlich?«
»Manchmal.«
Sie schwiegen für einen Moment. Comden trank den Rest seinen Glases in kurzen, schnellen Zügen. Jesse wusste genau, dass Comden die Frage auf der Zunge lag, ob sie auch wieder zusammen ins Bett gehen würden, doch er fand keinen Dreh, die Frage wirklich zu stellen.
»Nun«, sagte Comden, »muss schon ein seltsames Gefühl sein, sich nach der Scheidung wieder zu treffen, zumal Sie zwischenzeitlich ja eine Freundin hatten. Ist Ihre Ex denn wieder mit jemandem, äh, liiert?«
»Ja, ein bisschen seltsam ist es schon«, sagte Jesse.
Comdens Augen wanderten zum Barkeeper. Als er seine Aufmerksamkeit gefunden hatte, signalisierte er einen weiteren Drink.
»Ja, kann mir gut vorstellen, dass es seltsam ist«, sagte Comden.
Der Barkeeper brachte einen frischen Wodka Tonic und Comden griff danach, als würde er sich anderenfalls umgehend in Luft auflösen.
»Seltsam«, sagte Jesse.
»Verdammt seltsam.«
Jesse nickte.
»Nun, ich kann meine Braut nicht zu lang allein lassen«, sagte Comden. »War schön, Sie zu sehen, Jess.«
»Und mit Ihnen zu reden, Morry.«
Er wusste natürlich, dass Comden lieber Morris genannt werden wollte. Es war Spätsommer und die Sonne stand noch immer über dem Horizont. Ihre letzten Strahlen gaben dem dunklen Wasser des Hafens einen schimmernden Glanz. In einer halben Stunde würde die Sonne verschwunden sein, um dem dunklen Blau desAbends Vortritt zu lassen. Jesse nippte an seinem Scotch. Wenn er nach Hause kommen und dann noch den Wunsch verspüren würde, könnte er sich vor dem Schlafengehen ein paar vernünftige Drinks genehmigen. Eine große, attraktive Frau mit einer gesunden Bräune trat an die Bar und bestellte einen Absolut-Martini mit extra Oliven. Jesse lächelte sie an. Sie war vielleicht fünf Jahre älter als er, hatte platinblondes Haar und trug reichlich Make-up, das jedoch gekonnt aufgetragen war. Einen Ehering trug sie nicht.
»Ist es nicht furchtbar hier?«, sagte sie.
»Der Martini sollte es etwas erträglicher machen«, sagte Jesse.
»Aber nur, wenn ich genug davon trinken könnte.« »Und Sie können nicht?«
Sie lächelte und schüttelte den Kopf.
»Ich bin hier, weil es gut fürs Geschäft ist, sich hier sehen zu lassen«, sagte sie. »Aber keiner von uns beiden darf es sich
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