Terror
fünf Booten in die eine und den zweyten vier in die andere Richtung – erbrachten lediglich die Entdeckung von kleinen Buchten, Brüchen im Eise und zweyer weiterer Blutlachen, aus welchen zu errathen war, daß ein Mann aus unserem Erkundungstrupp geflohen und dann auf grausame Weise abgefangen und zurückgeschleppt worden war. Zum Glücke fanden wir nichts als Fetzen blauer Wolle.
Inzwischen war es früher Nachmittag geworden, und wir alle hatten nur noch den einen, sehnlichen Wunsch, diesen verfluchten Ort zu verlassen. Mittlerweile hatten wir drey Todte – oder zum mindesten Theile derselben – geborgen, und wir empfanden es als unsere Pflicht, auf ehrenvolle Weise mit ihnen zu verfahren. Manch einer wird gedacht haben, und wohl auch zu Recht, daß dies die letzte förmliche Bestattung sey, zu welcher unsere arg decimirte Expedition im Stande seyn wird.
Im Eissee wurde kein weiteres nützliches Treibgut gefunden, bis auf eine durchnäßte Persenning von einem Hollandzelte, welches Leutnant Little in seinem dem Untergang geweihten Walboote mitgeführt hatte. Vermittels dieser Plane wurde unser Freund Harry Peglar beigesetzt. Die spärlichen sterblichen Überreste, die ich in der Nähe der Fahrrinnenöffnung untersucht hatte, blieben in ihrem Schrotbeutel. Mr. Reids Leichnam wurde in eine überzählige Decke genäht.
Bei Seebestattungen ist es der Brauch, diejenigen, welche der Tiefe übergeben werden sollen, am Fuße mit einer oder mehreren Eisenkugeln zu beschweren, auf daß der Leichnam in Würde sinken und nicht auf beschämende Weise dahintreiben möge. Doch natürlich verfügten wir an diesem Tage nicht über Eisenkugeln. So beschafften die Schiffsmaaten einen Enterhaken aus dem treibenden Bug der Lady J. Franklin und einige der letzten leeren Conservenbüchsen, um die Verstorbenen zu beschweren.
Es nahm einige Zeit in Anspruch, bis die neun Boote aus dem Wasser gezogen und die Kutter und Pinassen wieder auf die Schlitten verbracht waren. Als die ausgemergelten Männer diese Schlitten zusammengesetzt
und sie mit den Booten beladen hatten, waren sie am Ende ihrer Kräfte. Danach versammelten sie sich am Rande des Eises und nahmen in weitem Bogen Aufstellung, um die Abbruchkante nicht zu stark zu belasten.
Keinem der Seeleute stand der Sinn nach einer langen Todtenfeier und gewiß nicht nach der früher so günstig aufgenommenen Ironie des sagenumwobenen Buches Leviathan. Und so vernahmen wir mit einigem Staunen und keiner geringen Rührung, wie der Capitain aus dem Gedächtniß den neunzigsten Psalm recitirte.
Herr Gott, du bist unsere Zuflucht für und für.
Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit,
der du Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder Menschenkinder!
Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache.
Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom; sie sind wie ein Schlaf, gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird,
das da frühe blüht und bald welk wird und des Abends abgehauen wird und verdorrt.
Das macht dein Zorn, daß wir so vergehen, und dein Grimm, daß wir so plötzlich dahinmüssen.
Denn unsere Missethaten stellst du vor dich, unsere unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht.
Darum fahren all unsere Tage dahin durch deinen Zorn; wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz.
Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.
Wer glaubt aber, daß du so sehr zürnest, und wer fürchtet sich vor solchem deinem Grimm?
Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden.
Herr, kehre dich doch wieder zu uns und sey deinen Dienern gnädig!
Fülle uns frühe mit deiner Gnade, so wollen wir rühmen und fröhlich seyn unser Leben lang.
Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagest, nachdem wir so lange Unglück leiden.
Zeige deinen Dienern deine Werke und deine Ehre ihren Kindern.
Und der Herr, unser Gott, sey uns freundlich und fördere das Werk unsrer Hände bei uns; ja das Werk unsrer Hände wolle er fördern.
Ehre sey dem Vater, dem Sohne und dem Heiligen Geiste.
Wie es war am Anfang, so auch jetzt und immerdar, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
Und alle zitternden Überlebenden antworteten: »Amen.«
Schweigen trat ein. Sanft wehte der Schnee
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