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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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der festgefrorenen Kufen kochen, bevor sie sich wieder auf den Weg durch die Trümmerhalde hinter dem soeben überwundenen Pressrücken machten.
    Eine halbe Stunde später gelangten sie zum nächsten Kamm.

    Die erste Nacht sollte Harry D. S. Goodsir in schrecklicher Erinnerung bleiben. Der Arzt hatte noch nie in seinem Leben in einem Lager unter freiem Himmel übernachtet. Aber die Wahrheit von Leutnant Graham Gores Worten leuchtete ihm sofort ein, als dieser lachend bemerkte, dass auf dem Eis alles fünfmal so lange dauere: das Auspacken der Ausrüstung, das Anzünden der Spirituslampen und -kocher, das Aufschlagen des braunen Hollandzelts und Einschlagen der Heringe ins Eis, das Ausbreiten der vielen zusammengerollten Decken und Schlafsäcke und vor allem das Erhitzen der Suppen- und Schweinefleischbüchsen.
    Und die ganze Zeit musste man in Bewegung bleiben – mit den Armen rudern, die Beine schütteln und mit den Füßen aufstampfen  –, um sich keine Erfrierungen an den Gliedmaßen zuzuziehen.
    In einem normalen arktischen Sommer, so erfuhr Goodsir von Des Voeux, der den letzten Sommer ihrer Fahrt durchs aufgebrochene Eis nach Süden als Beispiel anführte, stiegen die Temperaturen in diesen Breiten an einem sonnigen Junitag ohne Wind fast bis zum Gefrierpunkt an. Aber in diesem Sommer war alles anders. Um zehn Uhr abends, als sie anhielten, um das Lager aufzuschlagen, hatte Leutnant Gore die Lufttemperatur gemessen. Zu dieser Zeit war der Himmel immer noch hell erleuchtet von der Sonne am südlichen Horizont. Und das Thermometer zeigte minus neunzehn Grad. Auch bei ihrer Mittagsrast mit Tee und Zwieback war es nicht wärmer als minus vierzehn Grad gewesen.
    Das Hollandzelt war klein. Im Falle eines Sturms konnte es ihnen das Leben retten, aber die erste Nacht auf dem Eis war klar und beinahe windstill, und so beschlossen Des Voeux und die fünf Seeleute, draußen zu nächtigen – nur auf ihren Planen und Wolfsfellen, eingehüllt in ihre warmen, aus Decken der Hudson’s Bay Company gefertigten Schlafsäcke. Wenn schlechtes Wetter
aufkam, konnten sie sich immer noch ins Zelt zurückziehen, in dem es dann allerdings ungemütlich eng wurde. Nach kurzem Ringen mit sich selbst entschied sich Goodsir ebenfalls dafür, lieber draußen bei den Männern zu schlafen als drinnen bei Leutnant Gore, auch wenn dieser wirklich ein feiner und umgänglicher Kerl war.
    Das Licht trieb ihn fast in den Wahnsinn. Gegen Mitternacht wurde es ein wenig dämmerig, aber der Himmel war immer noch so hell wie an einem Londoner Mittsommerabend um acht Uhr. Goodsir konnte einfach nicht einschlafen. Noch nie in seinem Leben war er körperlich so erschlagen gewesen – und trotzdem fand er keinen Schlaf. Auch die schmerzenden Muskeln und Nerven nach den enormen Anstrengungen des Tages trugen offenbar dazu bei, dass er nicht zur Ruhe kam. Wenn er nur ein wenig Laudanum mitgenommen hätte! Ein kleiner Schluck hätte genügt, um seine Beschwerden zu lindern und ihn einschlummern zu lassen. Im Gegensatz zu manchen Ärzten mit Doktortitel, die stark beruhigende Arzneien verabreichen durften, war Goodsir nicht süchtig. Er benutzte die verschiedenen Opiate allenfalls, um besser schlafen oder sich konzentrieren zu können. Und nie öfter als ein- oder zweimal die Woche.
    Es war kalt . Nachdem er die warme Suppe und das Fleisch aus den Büchsen gegessen und ein paar Schritte hinaus in das zerklüftete Eis gemacht hatte, um sich zu erleichtern – auch dies war völlig neu für ihn und musste obendrein schnell erledigt werden, um Erfrierungen an wesentlichen Körperpartien zu vermeiden  –, legte sich Goodsir auf eine der sechs mal fünf Fuß großen Wolfsfelldecken, entrollte seinen Schlafsack und kroch tief hinein.
    Aber nicht tief genug, um warm zu werden. Des Voeux hatte ihm zu verstehen gegeben, dass er seine Stiefel ausziehen und mit in den Schlafsack stecken musste, damit das Leder nicht hartfror. Goodsir fiel ein, dass er sich irgendwann untertags an einem der
Nägel, die durch die Sohlen getrieben worden waren, den Fuß aufgeritzt hatte. Alle anderen Kleider behielt man einfach an. Sämtliche Schichten Wolle waren, wie Goodsir nicht zum ersten Mal bemerkte, feucht von den Ausdünstungen dieses schweren Tages. Dieses endlosen Tages.
    Das Dämmerlicht um Mitternacht sorgte dafür, dass einige Sterne sichtbar wurden. Aus den Erklärungen, die er vor zwei Jahren in dem behelfsmäßigen Observatorium auf dem Eisberg erhalten hatte,

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