Tesarenland (German Edition)
sie bei mir ist, gibt mir Kraft. Wir müssen die Gruppe der Kinder erreichen, bevor die Wächter ihre Speere benutzen.
»Vielleicht eine Zählung«, sagt jemand hinter mir.
»Nein, sie haben alles, was sie brauchen«, sagt ein anderer und tippt auf die Stelle am Unterarm, wo jeder von uns seinen Chip trägt.
»Sie nehmen uns unsere Kinder«, schreit eine Frau hysterisch.
»Nur die Kinder bis siebzehn«, brüllt der Übersetzer, als ein paar Eltern sich mit ihrem Nachwuchs auf die rechte Seite stellen.
Tumult bricht aus, als ein Tesarenaufseher Kinder gewaltsam von ihren Eltern trennt. Ich verschränke meine Finger mit Kaylas und ziehe sie hinter mir her. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Mit Händen, Schultern und dem ganzen Oberkörper dränge ich mich zwischen den Körpern hindurch. Es ist nicht einfach, sich durch die aufgebrachte Masse zu kämpfen. Aber wir schaffen es, zusammenzubleiben. Wir stellen uns zu den Kindern, die schon warten, und beobachten, wie die Menschenmasse immer unruhiger wird.
Dann passiert es. Einer der Tesare schießt auf eine Mutter, die sich an ihrem Sohn festkrallt. Ich halte den Atem an, verschließe Kayla mit der Hand die Augen. Es ist ein Reflex, denn die Frau hat sich so schnell aufgelöst, dass da nichts ist, wovor ich Kayla beschützen müsste.
Ein paar Aufseher laufen durch die Gruppe der Erwachsenen. Ich vermute, sie suchen nach Kindern, die sich versteckt halten könnten. Sie finden keine, nicht nachdem sie, ohne zu zögern, eine Mutter für ihr Ungehorsam hingerichtet haben.
In unserer Gruppe scannt einer der Tesare die Chips. Nach einem kurzen Blick auf unsere Daten werden wir auf den LKW verfrachtet. Plötzlich ist die Panik verschwunden. Da ist keine Angst mehr, nur noch Leere in mir, als ich begreife, dass wir es sind, die dieses Mal weggebracht werden. Ich kann nur noch denken: zumindest sind wir zusammen. Was auch immer jetzt mit uns geschehen wird, wir sind zusammen.
Kayla drückt sich besorgt an mich. Ihre Hände umschlingen meinen Arm. Ich kann sie zittern spüren, aber für einen Moment bin ich unfähig, darauf zu reagieren. Ich sollte sie trösten, ihr wenigstens beruhigend über ihr Haar streicheln, aber ich bin wie gelähmt.
Mit einem blechernen Knarren verschließt sich die Luke und lässt uns in Dunkelheit zurück. Dieses Geräusch reißt mich aus meiner Starre. Durch die löchrigen Außenwände dringt kaum Licht. Trotzdem erinnert es mich an einen sternenklaren Sommerhimmel. Dieses friedliche Bild, erscheint mir fast bizarr, angesichts der Situation, in der wir uns befinden.
Die Ladefläche des Gefährts ist voll. Wir stehen dicht an dicht gedrängt. Ich bekomme kaum Luft. Kayla fällt das Atmen bestimmt noch schwerer. Ihr Gesicht ist zwischen fremden Körpern eingeklemmt, weil sie so klein ist. Es müssen mehr als einhundert sein. Ich nehme Kayla auf den Arm, damit sie besser atmen kann. Sie schlingt ihre Arme um meinen Hals, presst ihr Gesicht an meins. Ihre Wange ist ganz nass von Tränen. Ich möchte sie gerne beruhigen, aber ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll, also streichle ich immer wieder über ihren Rücken.
»Wo bringen sie uns hin ?«, flüstert sie.
»Ich weiß es nicht .«
Als der Laster ruckelnd anfährt, wird es still um uns herum. Das Wimmern und Schluchzen verstummt schlagartig. Ich glaube, für einen Moment haben alle die Luft angehalten. Der Boden unter uns schwankt. Körper werden gegen Körper geschubst. Wenn wir nicht so eng stehen würden, würden wir fallen. Ich presse meine Arme noch fester um Kaylas Taille, stelle die Füße weiter auseinander, um besseren Stand zu finden.
Wie lange die Fahrt gedauert hat, kann ich nicht sagen. Aber als sich die Luke endlich wieder öffnet, atme ich erleichtert die frische Luft ein. Es ist noch immer Tag und ich muss gegen das Licht anblinzeln.
Langsam lichtet sich die Ladefläche. Einer nach dem anderen müssen wir aus dem Gefährt springen, unseren Arm zum Scannen heben und uns in einer Reihe aufstellen. Als ich endlich an den Rand der Luke gelange, zögere ich kurz. Wir stehen vor einem riesigen Gebäude. Es ist aus Stein und hat drei Stockwerke. So was habe ich noch nie gesehen. Nur in Erzählungen von den Älteren in der Kolonie gehört. Das Haus ist schmutzig schwarz, nur stellenweise kann man sehen, dass sich unter all dem Dreck eine graue Fassade versteckt. Die Fenster sind dunkle Löcher mit Gittern davor, wie sie auch das Lagerhaus in Kolonie D hat. In einigen stecken
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