Tessa
dort, ein überfüllter Aschenbecher, direkt daneben liegen ein paar zusammengedrückte Kippen, wie gekrümmte kleine Männchen hilflos, tot in ihrer eigenen Asche. Klebrige Rotweinflecken bedecken den Tisch. Ihre Notizen haben auch etwas Wein abbekommen. Der Badezimmerspiegel, bedeckt mit weißen Koksresten, starrt blind die Küchendecke an. Daneben liegt ihr Handy, sie nimmt es und entdeckt, dass sie einen verpassten Anruf hat. Sie sieht nach, ob Nick versucht hat, sie zu erreichen, aber muss enttäuscht feststellen, dass es eine unbekannte Nummer ist. Sie ruft ihre Mailbox an. Ihr Job. Sie wird dringend um einen Rückruf gebeten. Die Stimme klingt sehr unfreundlich. Sie legt das Handy zurück auf den Tisch. Sie muss sich erst einmal setzen. Sie kann jetzt keinen Anruf machen. Außerdem braucht sie doch ihre Medikamente.
Sie nimmt ihren Kopf zwischen die Hände. So viele Entscheidungen, die zu treffen sind. Sie muss den Anruf auf später verschieben, sie muss erst einmal zum Arzt und will jetzt nicht an Arbeit denken. Sie greift sich den Spiegel, geht ins Bad und hängt ihn ungeputzt wieder an die Wand. Unscharf blickt sie sich an. Ihre Haare stehen wild ab. Sie lässt etwas Wasser laufen und bändigt das kurze Haar. Sie geht wieder zurück in die Küche, sieht sich um, fragt sich, was sie gerade vorhatte, und die beiden Lithiumtabletten auf dem Küchentresen geben ihr schweigend Antwort. Tessa beugt sich zum Hahn und schlürft Wasser aus der hohlen Hand. Die Tabletten schmeißt sie in den Mund und schluckt schwer, doch sie wollen nicht so einfach runter, sondern kleben am hinteren Gaumen fest. Mehr Wasser. Kräftigeres Schlucken. Unangenehm spürt sie, wie sie langsam die Speiseröhre runterrutschen. Sie muss sich an der Küchenzeile festhalten, um nicht wieder loszukotzen.
Die Sprechstundenhilfe schaut mit einem verächtlichen Blick auf die Wanduhr. Tessa ist eine halbe Stunde zu spät dran. Unfreundlich wird sie aufgefordert, im Wartezimmer Platz zu nehmen. Sie betritt den überfüllten Raum und ärgert sich, sich überhaupt beeilt zu haben. Sie geht zum Zeitschriftenständer und greift sich ein paar Hochglanzmagazine, bevor eine der gestörten Omis, mit denen der Laden hier vollgestopft ist, ihr die wegnehmen könnten. Sie setzt sich, und beim Ablegen auf den Schoß fallen ihr drei der Hefte runter. Beim Hinunterbeugen hört sie ein verächtliches Zungenschnalzen. Sie richtet sich schnell auf und sucht den Übeltäter. Die Omis schauen sie alle extra unschuldig an, also wirft sie der ganzen Reihe böse Blicke zu. Einige wenden sich erschrocken ab. Beim Blättern entdeckt sie ihr Gesicht in einer Werbung. Sie schlägt die Seite hastig weiter. Sie muss lange warten, und als sie das letzte Heft gelesen hat, wirft sie sie allesamt neben sich auf den Stuhl, bringt sie nicht zurück zum Ständer und schaut sich herausfordernd um, aber kein Blick trifft sie. Sie starrt ins Leere, und irgendwann steckt die Psychiaterin ihren Kopf aus der Tür und bittet sie herein.
Sie schütteln sich die Hände. Billiges Buchenfurnier dominiert den kleinen Raum, dazu grelle, kräftige Farben: rot, blau und gelb.
»Setzen Sie sich doch bitte.«
Die Ärztin wartet, bis Tessa sich gesetzt hat, und nimmt dann selber Platz.
»Und, wie geht es Ihnen? Sie waren ja lange nicht mehr da. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass Sie nicht mehr kommen«, sagt die Ärztin, während sie auf ihren Bildschirm starrt und mit der Maus wilde Muster auf die Tischoberfläche zeichnet.
Tessa stützt sich mit den Ellenbogen auf den Tisch, nimmt ihren Kopf zwischen die Hände, atmet erst einmal tief durch. Beugt sich zurück und spuckt es aus. »Mir geht es schlecht.«
»Ja? Erzählen Sie doch, bitte.« Die Ärztin sieht sie nun an.
»Ich bin schon wieder am Durchdrehen. Ich kann nicht zu Hause sitzen, kann die Leere nicht ertragen, außerdem musste ich mich von meinem Freund trennen, weil er mich nicht geliebt hat. Ich war auch schrecklich zu ihm. Wir haben einander einfach nicht gutgetan. Aber jetzt fühle ich mich noch einsamer. Außerdem werde ich fett.«
Die Ärztin macht sich Notizen. »Treiben Sie Sport?«
»Sport?« Tessa sieht die Psychiaterin irritiert an.
»Wie viel Lithium nehmen Sie denn zurzeit?« Sie schaut wieder in ihren Computer.
»Ich habe morgens und abends eine Tablette genommen, aber ich habe sie manchmal vergessen. Und dann waren sie auch irgendwann alle. Eigentlich hat mein Freund mit mir Schluss gemacht, weil ich so
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