Tessa
Sehnsucht nach einem letzten Schluck. Das Kühlfach ist zugefroren. Die Eisschicht so dick, dass sie kaum Raum für Inhalt bietet. Alkohol ist auch keiner drin. Sie durchforstet ihr Küchenregal. Sie schwitzt. Hinter der mit Nudeln gefüllten Whiskeydose entdeckt sie tatsächlich noch einen osteuropäischen Kräuterschnaps, der wird knallen auf all das Zeugs, das sie schon genommen hat. Sie hat keine Angst vor dem Einschlafen, und ob sie wieder aufwacht, merkt sie morgen.
Um kurz nach acht sitzt sie im Café, sie ist nicht die Erste. Immer sind andere schon vor ihr wach, egal, wie früh sie am Abend zuvor ins Bett gegangen ist. Sie beobachtet die lange Schlange an der Kasse, die meisten bestellen sich ihren Latte macchiato in einem Pappbecher zum Mitnehmen. Sie sehen alle so verdammt beschäftigt aus, keiner drängelt, keiner motzt. Ein paar tippen synchron in ihre Handys. Am meisten verwundert sie, dass alle um diese Uhrzeit schon so perfekt gestylt sind. Tessa ist froh, wenigstens ihren knallroten Lippenstift aufgetragen zu haben. Langsam schiebt sich die Schlange vorwärts, und bewaffnet mit ihren Pappbechern, in der anderen Hand ihre Laptoptaschen, verlassen sie das Café wieder, alle mit einem festen Ziel. Tessa fühlt sich fremd und kriegt ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht einmal einen scheiß Rückruf auf die Reihe bringt. Später. Sie trinkt ihren Latte macchiato, gönnt sich dazu ein Croissant, obwohl sie weiß, dass es zu viel Fett enthält. Sie beißt das erste Stück ab und fängt schon an, sich Sorgen zu machen, dass ihr eines nicht reichen wird. Hastig schlingt sie den Rest hinunter, damit sie den leckeren Geschmack schneller vergessen wird. Den leeren Teller lässt sie stehen, die fettigen Krümel an ihrem Mund streift sie vorsichtig mit ihren Fingerspitzen ab, um nicht ihren Lippenstift zu verwischen. Sie nimmt sich ihr Kaffeeglas, greift eine Zeitung aus dem Zeitschriftenregal und geht raus auf die Straße. Die Sonne steht noch tief und schafft es nicht über die Altbauten hinweg auf den Platz. Der Tag verspricht heiß zu werden. Die Nacht hat die Stadt nicht abkühlen lassen. Die kleinen, runden Tische stehen wacklig schief auf dem groben Pflasterstein. Die Stühle sind dicht nebeneinander aufgereiht und schauen alle auf die Straße. Nur zwei der Tische sind besetzt. Eine Schachtel weiße Gitanes blitzt sie herausfordernd an.
Sie wählt den Nebentisch, ein Stuhl bleibt zwischen ihr und dem dazugehörigen Mann frei. Sie dreht sich zu ihm, lächelt ihn freundlich an und fragt, ob sie eine Zigarette haben kann. Der Mann sieht erfolgreich aus, er trägt Krawatte, weißes Hemd und eine dunkelgrau melierte Anzughose. Eine schwarze Ray Ban verdeckt sein Gesicht. Vielleicht tut er auch nur geschäftig und ist in Wahrheit verkatert. Ohne sein Gesicht zu verziehen, greift er nach der Schachtel, öffnet sie gekonnt mit derselben Hand und schüttet eine Zigarette griffbereit hervor. Sie nimmt sie, steckt sie sich zwischen die rot bemalten Lippen und wartet auf seinen nächsten Zug. Doch der Mann hat sie anscheinend längst vergessen, abwesend blättert er wieder in seiner Zeitung. Sie nimmt die Zigarette, jetzt mit rotem Filter, wieder aus ihrem Mund, langt nach ihrem Beutel und sucht nach einem Feuerzeug. Enttäuscht gibt sie nach einer Weile angestrengten Kramens auf und blättert stattdessen schlecht gelaunt durch ihre Zeitung. Doch sie kann sich nicht auf die Artikel konzentrieren, nichts fängt ihre Aufmerksamkeit. Sie wendet, versucht zu falten und ist genervt von dem großen, dünnen Papier. Sie will ihr Glas schnell austrinken und wieder verschwinden, als sie auf der anderen Straßenseite Nick entdeckt. Ihre Blicke treffen sich, er bleibt stehen, ein schiefes Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. Sie lächelt zurück. Er überquert die Straße, setzt sich neben sie.
»Hast du Feuer?«, fragt sie.
»Hey Tess. Alles klar?«
»Weiß nicht«, sagt sie. Und ihr Herz klopft aufgeregt.
Er zündet ihre Zigarette an. »Willst du reden?« Fragend schaut er sie an.
»Haben wir das nicht schon viel zu oft versucht?«
»Wir könnten es noch mal versuchen.«
Sie schaut auf ihr leeres Glas und dann ihn wieder an. »Gehen?«
»Wohin?«, fragt er.
»Vielleicht erst einmal weg von hier.«
Sie verlassen das Café. Und sie bestimmt die Richtung, eher unbeabsichtigt setzt sie den Fuß einen Tick schneller. Er folgt. Sie schweigen und halten genügend Abstand, um ihre Hände nicht aus Versehen
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