Tessa
seine Nummer, ihr Herz fängt heftig an zu schlagen, als sie seine verschlafene Stimme hört.
»Hier ist Tessa. Kannst du mir bitte meine Kette bringen?«, fragt sie und versucht nicht loszuheulen.
»Tessa? Ist alles in Ordnung?«, fragt er und ist plötzlich ganz da.
»Kannst du mich bitte sofort abholen?«, bittet sie ihn schluchzend.
»Wo bist du?«
Sie nennt ihm die Adresse und legt auf. Langsam steht sie auf, umwickelt sich mit der Decke und geht ins Wohnzimmer. Uwe und ein Mann im Nadelstreifenanzug, an den sie sich schwach erinnern kann, sitzen noch immer an dem Tisch, sie schauen auf, als sie den Raum betritt. Der Haufen Koks ist beträchtlich kleiner geworden. Leere Augenhöhlen starren sie an, und sie kramt hastig ihre Sachen zusammen.
Grauer Himmel, graue Betonwände umfassen sie, als sie aus der Eingangstür tritt. Suchend schaut sie sich nach Frieders Wagen um, kann ihn aber nicht entdecken. Sie sinkt auf den Bordstein nieder, starrt ihr Handy an, speichert Frieders Nummer ein und ruft ihn erneut an. Verzweiflung macht sich breit. Das zehnte Freizeichen. Dann die Mailbox. Wenn er jetzt gar nicht kommt? Sie bleibt dennoch sitzen. Fällt in sich zusammen. Sie friert und stinkt. Sie kann nicht aufstehen, kann aber auch nicht weiter hier sitzen. Was, wenn der Typ mit dem Nadelstreifenanzug kommt oder Uwe? Was, wenn sie zurück in die Wohnung muss?
Sie steht hastig auf. Sie wählt wieder die Nummer von Frieder, knabbert an ihrer Nagelhaut. Lehnt sich an die graue Häuserwand. Eine Krähe schreit in ihrer Nähe. Und wieder geht die Mailbox ran. Das Gefühl, ihr Oberkörper ist eingeschnürt, und es wird noch enger. Die Luft zum Atmen wird weniger, sie muss sich wieder hinsetzen. Sie wankt zurück zum Bordstein, kramt in ihrer Tasche und sucht nach Geld fürs Taxi, nur Kleingeld. Wo sind bloß die zweihundert Euro geblieben? Sie schüttet den Inhalt ihrer Tasche auf den Bürgersteig. Tampons, Zettelchen mit Telefonnummern, Centstücke, Eurostücke, Kaugummipapier, eine zerbrochene Zahnbürste, Lippenstifte, eine benutzte Unterhose, ihr Ausweis, der Notizblock aus dem Hotel in Polen und ihr Handy verstreuen sich auf dem Asphalt. Sie greift nach dem Handy, für einen erneuten Versuch, Frieder anzurufen. Freizeichen, dann macht es ein unangenehmes Geräusch, sie starrt auf ihr Handy, und es warnt sie, dass ihr Akku alle ist. Sie lässt ihren Kopf zwischen die Beine sinken und fängt an zu heulen.
Sie hört das gleichmäßige Motorengeräusch des Volkswagens. Das Auto hält vor ihr. Der Ton des elektrischen Fensteröffners lässt sie aufblicken. Noch bewegt sie sich nicht. Sie könnte sich irren. Frieder steckt den Kopf aus dem Fenster: »Kommst du?«
Sie nickt, schaufelt langsam ihre Sachen zurück in die Tasche und steht auf. Sie läuft um den Wagen herum, versucht die Beifahrertür zu öffnen, doch sie ist verschlossen. Mit der Faust hämmert sie gegen das Fenster. Frieder öffnet die Tür. Sie hört sein verhaltenes Lachen, aber schaut ihn nicht an, mag selber nicht angesehen werden. Sie knallt die Beifahrertür zu und starrt aus dem Fenster. Sie blickt Uwes Eingangstür an und verabschiedet sich stumm, sie will nie wiederkommen. Nie wieder Drogen. Tessa spürt Frieders Blick auf sich ruhen. Bestimmt erkennt er das Kleid, das sie schon in Polen getragen hat. Soll er doch.
»Warum fahren wir nicht?«, fragt sie die Fensterscheibe.
»Wo magst du hin?«
Scheiß Gegenfragen. Tessa zuckt mit den Schultern, der Blick weiterhin aus dem Fenster gerichtet.
»Wollen wir in den Wald. Spazieren gehen?«, fragt er sie sanft.
»Mir ist kalt.«
»Ich könnte dir meinen Pullover geben.«
»Dann ist dir kalt.«
»Nein, ich friere nicht.«
Sie dreht vorsichtig ihren Kopf zu ihm, sieht ihn fragend an. »Würdest du mit mir dorthin fahren?«
Frieder lacht sein beruhigendes Lachen. »Klar.«
Er legt den Gang ein und fährt los. Vielleicht wird alles gut werden, denkt sie, bevor sie die Augen schließt und die Dunkelheit sie einlullt.
Die nächsten Tage verbringen sie in ihrem Bett. Sie fragt nicht mehr nach der anderen Frau, auch er redet nicht von ihr, und dann hört sie irgendwann auf zu existieren. Frieder kocht für sie. Er wäscht ihre Wäsche, räumt auf und putzt. Manchmal verlässt er die Wohnung. Lange bleibt er nie weg, und sie beginnt sich an das Leben zu gewöhnen. Ihre Handys klingeln nicht, ganz einfach, weil sie sie ausgeschaltet haben. Und langsam erholt sich ihr Körper. Sie
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