Tessa
braucht einen scheiß neuen Plan. Sie sieht aus dem Fenster. Es ist noch hell, wahrscheinlich noch immer nachmittags. Langsam steht sie auf. Keine Kopfschmerzen oder Übelkeit. Ihr Körper hat sich erholt.
Tessa fährt ziellos mit dem Rad durch die Stadt, der kühle Wind weht ihr ins Gesicht. Von einem Zaun herab krächzen sie zwei große Krähen an, die Leiber glänzend grau, mit schwarzen Flügeln und Köpfen und noch dunkleren, stumpfen Augen. Die Blätter über ihr rauschen. Auf der Friedrichsbrücke an der Museumsinsel steigt sie vom Rad und verharrt einen Moment, sie blickt sich nach dem Zigeuner um, der neben ihr auf einem Klappstuhl sitzt und auf seinem Akkordeon traurige Lieder spielt. Vor ihm liegt ein ausgebeulter alter Hut, ein weißer Rand vom Schweiß säumt das innere Band, Euromünzen glitzern in der untergehenden Abendsonne. Sie wird Frieder vergessen müssen und sich stattdessen um ihr Leben kümmern. Morgen. Morgen wird sie anfangen, ihr Leben in Ordnung zu bringen. Plötzlich verspürt sie Hoffnung. Alles wird gut. Morgen. Sie setzt sich wieder auf ihr Rad, fährt am Hackeschen Markt entlang, beobachtet die Touristen, die mit ihren Wein- und Biergläsern in Gruppen unter Heizpilzen sitzen. Sie würde jetzt auch gerne was trinken, nur heute noch. Damit sie einen Plan machen kann. Vielleicht kann sie sich zu Hause sofort hinsetzen und eine Liste der Dinge schreiben, die sie zu erledigen hat. Dabei ein gutes Glas Rotwein trinken. Als sie auf einem Tisch einen Zwanzig-Euro-Schein unter einen Aschenbecher geklemmt entdeckt, denkt sie nicht lange nach, sondern stoppt abrupt, schnappt sich das Geld und radelt davon, dabei fährt sie fast einen alten Mann an, der fluchend hinter ihr her brüllt. Ihr schlechtes Gewissen hält sie stumm. Beim Spar um die Ecke kauft sie sich Zigaretten, eine Flasche Rotwein und eine Packung Tiefkühlkost. Aufkommende Zweifel beruhigt sie mit dem Gedanken, dass sie sich den Wein verdient hat. Den Rest des Geldes gibt sie dem Penner, der vor dem Laden hockt. Der Mann stinkt, soll er sich doch auch etwas Alkohol gönnen.
Ihre letzte Zigarette ist geraucht, der Wein ist leer. Auf ihrem Tisch liegen vollgekrakelte Zettel, sie blickt auf die Uhr an der Wand und bemerkt verwirrt, dass es bereits nach Mitternacht ist. Sie braucht noch eine Zigarette, hilflos blickt sie sich um. Sie läuft auf den Balkon, kein Mensch auf der Straße, trotzdem glaubt sie, dass sich dort draußen noch irgendwo Leben abspielen wird. Dahin möchte sie jetzt. Sie könnte morgen ausschlafen, um sich dann um all die Dinge zu kümmern. Sie greift nach ihrem hellen Trenchcoat und verlässt das Haus im Schein der Straßenlaternen. Bis zum Delicious Donuts hat sie es nicht weit, dort trifft sie bestimmt jemanden, den sie kennt. Die rote Leuchtschrift im Fenster brennt. Also ist der Laden zumindest noch offen. Durch die Tür hört sie das Bummern der Bässe. Sie klingelt, ein dicker, hässlicher Typ öffnet und verlangt Eintritt.
»Ich bin verabredet.«
»Fünf Euro.«
»Sehe ich aus, als würde ich selber Eintritt zahlen?«
Er mustert sie, kann sie offensichtlich nicht ausstehen. Und versperrt ihr weiter den Weg.
»Okay, ich hole meine Verabredung hierher, und dann zahlt er, aber dafür musst du mich erst einmal reinlassen. Klar, oder?« Sie merkt, wie sie lallt, aber gegen diese Logik kommt der dicke Türsteher anscheinend nicht an. Wahrscheinlich hat er schlechte Erfahrungen mit Frauen gemacht, denkt sie schadenfroh. Er lässt sie passieren. Sie kennt niemanden und hat kein Geld für einen Drink, also geht sie auf die Toiletten, damit der Türsteher sie nicht sofort wieder rausschmeißt. Eine Kabine ist besetzt, sie betritt die daneben. Lehnt sich an die Wand. Stimmen. Machogehabe auf der anderen Seite. Sie lauscht und grinst, da will eine nicht. Sie erkennt plötzlich die männliche Stimme. Uwe lallt in der Kabine neben ihr. Sie klopft an die Tür, die sich daraufhin einen Spalt öffnet.
»Baby, du?«
»Vielleicht mag ich auch.« Obwohl sie sich selber nicht ganz sicher ist. Aber sie ist betrunken, das Verlangen ist da und lauter als der Zweifel.
»Komm rein, Süße.«
Eine Anfangzwanzigjährige steht mit Uwe in der engen Kabine. Zu viel billiges Make-up lässt sie älter aussehen. Ihr Lippenstift ist leicht verschmiert. Sie trägt knallenge Jeans, das Shirt ist zu eng, der Bauch und die Hüften blitzen hervor. Aber kein Gramm Fett. Sie quetscht sich an Tessa vobei. Und Tessa zwängt sich
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