Tessy und die Hörigkeit der Malerin - 1
und mit einem Frage- und einem Ausrufezeichen versehen.
Wenn Paula nicht auf so denkwürdige Weise entlassen worden wäre, hätte Charlotte diesen Notizen keinerlei Beachtung geschenkt. So aber verglich sie die angegebenen Buchungsnummern der Ein- und Ausgangsrechnungen mit den erfassten Daten in den entsprechenden Konten und den abgehefteten Belegen, um schließlich verblüfft festzustellen, dass Philipp ein außergewöhnlich guter Geschäftsmann war. Er hatte zum einen bei einer Wohnungsauflösung preiswert Möbel erworben, die aus der Mitte des letzten Jahrhunderts stammten und offensichtlich keine besonders gefragten Antiquitäten darstellten. Nichtsdestotrotz war es ihm in den folgenden Monaten gelungen, eben diese Stücke für das Fünf- bis Zehnfache des Einkaufspreises weiter zu veräußern. Selbst unter Berücksichtigung diverser Kosten, die für Lagerung, Restauration und Transport möglicherweise angefallen waren, hatte der Käufer ein alles andere als gutes Geschäft gemacht. Zum anderen hatte Philipp einen begehrten Schrank ausgesprochen günstig erstanden und zu einem horrenden Preis wieder verkauft.
Als Charlotte einen Wagen vorfahren hörte, stellte sie die Ordner rasch zurück und fuhr den PC herunter. Den Zettel von Paula steckte sie in ihre Hosentasche. Philipp schien ein richtiges Schlitzohr zu sein. Die mitschwingende Bewunderung erhielt allerdings einen leichten Dämpfer, als sie sich die Frage stellte, warum er seine Erfolge so konsequent abschottete, statt sich offen über die satten Gewinne zu freuen.
Am Nachmittag stand sie vor ihrer Staffelei. Die leere Leinwand fühlte sich kühl an. Rauh. Unbestechlich. Charlotte lächelte, obwohl ihr beklommen zumute war. Zu viele Gefühle, und jedes einzelne versuchte, die Oberhand zu gewinnen. Ich habe mich verändert, dachte sie. Wo ist mein Stolz geblieben? Meine Stärke. Der Mut, mein eigenes Leben zu leben und meine Meinung zu sagen. Ich hänge mich an einen Mann, der noch verrückter ist als all die anderen, mit denen ich auch schon Schiffbruch erlitten habe. Nur faszinierender, erotischer, reicher. Unergründlicher. Ich mache mich schwach, und mein Widerspruch ist klein, kaum der Rede wert, eher ein Herumwinden, gleichzeitig bin ich voller Wut. Und einer eigentümlichen Angst. Sie kribbelt. Was will ich noch hier?
Sie nahm den Kohlestift und skizzierte einen Männerkopf – rasch und schwungvoll: blanke Augen, fast stechend, starkes Kinn, kurzes Haar. Sehnsucht auf den Lippen. Schmerz im Blick. Simon.
Am nächsten Tag hatte sie sich gerade einen frischen Kaffee geholt, als sie Stimmen hörte. Sie spähte zum Fenster heraus. Im Hof stand ein Benz samt Anhänger, auf den Simon und Holger eine schwere Standuhr verluden. Der Wagen war neu und an den Türen mit einer Aufschrift versehen, die Charlotte bekannt vorkam. Der Kunde stand breitbeinig daneben und klopfte Philipp auf die Schulter. Sein lautes, selbstgefälliges Lachen war selbst bei geschlossenen Fenstern unangenehm.
Sie ging zurück ins Büro und setzte sich an den PC. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte Simon das Stück vor wenigen Tagen bei einer Versteigerung für knapp tausendfünfhundert Euro gekauft. Charlotte warf einen Blick auf die Kopie der Quittung, die Philipp ihr bereits auf den Schreibtisch gelegt hatte. Der Kunde mit dem lauten Lachen war Christoph Pohlmann, Diskothekenbesitzer und offenbar Antiquitätenliebhaber. Er hatte bar bezahlt: neuntausend. Ein satter Gewinn. Sie blickte erneut auf den Beleg und öffnete das Buchhaltungsprogramm, um den Vorgang gleich zu buchen. Sie stutzte – Pohlmann kaufte häufig bei Philipp. Ungewöhnlich häufig. Die ganze Bude muss voll von dem Zeug sein, dachte Charlotte. Sie fuhr den PC herunter, räumte den Schreibtisch auf und hatte plötzlich eine Idee.
Kurze Zeit später holte sie ihren Skizzenblock aus dem Atelier. Als sie wieder nach unten kam, wartete Philipp auf sie.
„Na, was hast du noch vor?“
Sein Blick hatte wieder dieses Lauern, und sie spürte das bekannte ängstlich-lustvolle Flattern in ihrer Brust. „Ich möchte zeichnen. Und ich brauche neue Farben und Pinsel.“
Er musterte sie schweigend. Dann griff er in seine Hosentasche und gab ihr sein Portemonnaie. „Nimm, was du brauchst.“
„Danke.“
„Ich habe heute Abend sehr spät noch einen Termin, komme aber zwischendurch nach Hause. Sei gegen fünf zu Hause, und zwar pünktlich.“ Seine Stimme klang plötzlich merkwürdig belegt.
Charlotte sah ihn
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