Teufelsberg: Roman (German Edition)
Bild von Horst Vierer, das dort an der Wand hing. Das Bild zeigte eine Leichenhalle. Aber die Leichen träumten noch, oben sah man ihre Visionen von Glück und Reichtum. In ihren Träumen hatten sie einen großen, blühenden Garten, und sie konnten sich teure Reisen in den Süden leisten, wo die Sonne strahlte.
Falko wandte den Kopf und schaute durch das große Fenster am Ende des Flures in den Vorhof der Cardea, der trichterförmig in das Oktagon des Gebäudes führte. Gegenüber, auf dem Flur der B, stand ein Junge mit Ringelpullover und großen Kopfhörern. Er winkte und machte ein Zeichen. Falko stand auf und schlenderte in den Aufenthaltsraum zu den Fahrstühlen. Der Junge war schon da, er saß an einem der Tische.
»Was willst du von mir?«, fragte Falko und setzte sich.
»Einfach nur quatschen«, lächelte der Junge.
»Dann quatsch halt los. Irgendwie muss man die Zeit ja rumbringen«, sagte Falko.
»Halten Sie es auch nicht mehr aus auf dem Zimmer?«, fragte der Junge. »Ich bin mit drei Leuten zusammen. Deswegen trage ich den ganzen Tag die.« Er zeigte auf seine Kopfhörer, die er vor sich auf den Tisch gelegt hatte.
»Shit«, sagte Falko.
»Irgendwie stimmt meine Dosis nicht«, fuhr der Junge fort, »ich bin heute das zweite Mal eingeliefert worden. Aber es läuft ganz gut für mich.«
Er hatte ein kleines Doppelkinn und ein nacktes, nettes Gesicht, er war vielleicht neunzehn Jahre alt.
»Aber wenn es gut liefe, wärst du doch nicht hier«, bemerkte Falko.
Der Junge lächelte wieder. »Doch, es läuft besser als letztes Mal. Letztes Mal habe ich nicht gesprochen. Bewegt habe ich mich auch nicht.«
»Wieso das denn?«
»Da war so ein Licht in mir. Und immer wenn ich die Glieder krümmte, flitzte das Licht um die Ecke, und in dem Moment wurde es böse.«
»Das Licht wurde böse? Alles klar.«
»Damals wollte ich die ganze Menschheit vor dem bösen Licht bewahren. Ich wollte auch nichts mehr essen, damit das Licht mit den Ausscheidungen nicht meinen Körper verlässt.«
»Das ist doch gaga«, sagte Falko.
»Meinen Sie?«
Falko lehnte sich zurück in den Sessel und ließ seine Schuhe ein paarmal aneinanderklacken. Er trug braune Church’s, sie waren in den Falten leicht eingerissen. Er polierte sie jeden Tag.
»Ich hätte das nicht in mir behalten«, sagte er schließlich, »das böse Licht. Ich hätte mich erst einmal selbst gerettet, nicht gleich die ganze Welt.«
»Ja«, sagte der Junge, »das ist wohl der Unterschied.«
»Wie meinst du das?«
»Sie denken eben nur an sich, nicht an die anderen.«
»Na hör mal«, sagte Falko.
»Wenn Sie das böse Licht in sich haben, furzen Sie es raus. Sie können sich offenbar nicht opfern.«
»Hast du sie noch alle? Wir reden über eine Wahnvorstellung. Du kannst doch nicht ernsthaft behaupten, dass man moralisch mit einer Wahnvorstellung umgehen kann.«
»Doch«, sagte der Junge. »Solange ich verrückt war, habe ich die Welt gerettet.«
»Bullshit, du warst einfach nur plemplem.«
»Aber man kann die Welt nur retten, wenn man plemplem ist. Wäre ich normal gewesen, dann hätte ich das böse Licht doch gar nicht bemerkt.«
»Ich gebe es auf«, seufzte Falko. »Hast du eine Kippe?«
»Ich rauche nicht.«
»Was soll’s. Ich meistens auch nicht.«
Sie schwiegen. Ab und zu öffnete sich der Fahrstuhl, und jemand vom Pflegepersonal betrat den Aufenthaltsraum und verschwand gleich wieder auf der B.
Falko versuchte, Blickkontakt mit der hübschen Praktikantin am Tresen aufzunehmen, aber sie schaute ihn nicht an. Sie war braungebrannt, sportlich und zart, eines der wenigen Mädchen, die sich kurze Haare leisten konnten. Sie hatte zahllose Bänder am Handgelenk, die Patienten in der Ergotherapie für sie geflochten hatten. Fast alle Patienten trugen diese Bänder, viele hatten ihre Schrankschlüssel daran befestigt.
»Domke hat mich damals gerettet«, nahm der Junge das Gespräch wieder auf.
»Der Musiktherapeut?«, fragte Falko, »der Gongheini?«
»Er hat sich mit der Gitarre an mein Bett gesetzt und Reinhard Mey gespielt. ›Über den Wolken‹.«
»Ich halte es nicht aus!« Falko fasste sich an die Stirn. »Das ist ja noch dämlicher als unsere Session im Grunewald.«
»Aber ich habe mich dann wieder bewegen können«, sagte der Junge. »Das Lied von Reinhard Mey hat mich von dem bösen Licht befreit.«
»Reinhard Mey ist das böse Licht, mein Sohn. So was hört man doch nicht, hast du keine Facebook-Freunde, die dir sagen, was in
Weitere Kostenlose Bücher