Teufelsfrucht
krampfartigen Hustenanfall geschüttelt, worüber Kieffer nicht unglücklich war. Er hatte diesen Sermon bereits hundertmal gehört und war nicht besonders erpicht darauf, ihn nochmals vorgetragen zu bekommen. Deshalb wechselte er rasch das Thema.
»Sag mal, ist wirklich alles in Ordnung? Ich will mich nicht in deine Geschäfte einmischen – aber ich habe fleckige Teller gesehen und noch einige andere Sachen, die mir nicht optimal erscheinen.« Boudier schüttelte ärgerlich den Kopf. »Ach was, das ist nichts, das kommt wieder in Ordnung. Mein Maître d’ hat gewechselt, vor drei Wochen, deshalb knirscht es ein wenig im Gebälk, nichts weiter. Es geht mir prächtig. Ich habe gerade ein paar Dinge festgezurrt, die uns die zwei Sterne auf sehr lange Zeit sichern werden.«
»Was denn?«
Boudier setzte ein selbstzufriedenes Grinsen auf und griff erneut nach Kieffers Zigaretten. »Du bist ja – leider, muss ich sagen – kein Konkurrent, deshalb kann ich es dir erzählen. Warte einen Moment.« Der Sternekoch beorderte einen der Kellner zu sich und flüsterte ihm etwas zu. Der Mann nickte und verschwand.
»Die Zeiten sind anders geworden, Xavier. Ganz anders! Mit raffinierten Wildgerichten oder der Reinterpretation einer Apfeltorte lockt man niemanden mehr hinter dem Ofen hervor. Die Leute sind übersättigt. Sie sehen den ganzen Tag diese Köche im Fernsehen, die Zeitschriften sind voll mit exotischen Rezepten. Und all die exklusiven Zutaten, wegen derer wir vor zehn Jahren noch durch halb Europa gekurvt sind, die kriegst du jetzt in jedem Supermarkt hinterhergeschmissen. Du musst deinen Gästen etwas ganz Neues bieten, etwas Einzigartiges. Und da gibt es nur zwei Wege. Der erste ist, das Essen so auseinanderzunehmen, dass du es nicht mehr wiedererkennst. So wie es dieser Laborant aus Spanien macht.«
»Du meinst Ramirez? Vom ›Perro Pastor‹?«
»Genau. Hast du von seinem aire de zanahoria gehört? Das ist Spanisch und bedeutet Karottenluft. Er nimmt Karottenpüree, jagt es durch eine Industriezentrifuge, quirlt es dann zu Tode und serviert seinen Gästen die Schaumbläschen.«
»Ja, großer Quatsch, wenn du mich fragst.«
»Eben nicht, du Luxemburger Bauernschädel. Diese Karottenluft – oder was auch immer sich der Hexer als Nächstes ausdenkt – ist etwas, was noch niemals zuvor irgendjemand gegessen hat. Genau darum geht’s! Er hat begriffen, dass die Leute etwas völlig Neues wollen.«
In diesem Moment musste der füllige Boudier wieder heftig husten, was seinen Redefluss jäh unterbrach. Als er sich wieder etwas gefangen hatte, lehnte er sich nach vorne und sah Kieffer durchdringend an.
»Falls du kein Chemielabor in deinem Restaurant betreiben willst, gibt es aber noch eine zweite Möglichkeit. Sie ist ziemlich banal, aber wirkungsvoll.«
Kieffer sah Boudier interessiert an. »Natriumglutamat?«
»Wie immer gebricht es dir an Ernsthaftigkeit, Xavier«, erwiderte Boudier tadelnd. »Keine chemischen Geschmacksverstärker, jamais! Sondern Folgendes: Ich nehme Zutaten aus der Natur, die noch niemand vor mir benutzt hat.«
»Was ist daran so ungewöhnlich?«
»Eigentlich nichts. Schon Bocuse hat die Leute vor 20 Jahren zum Ausflippen gebracht, indem er seinen Schinken in frischem Heu kochte. Vergangenes Jahr habe ich eine kulinarische Tour durch Asien gemacht. Hongkong, Bangkok, Schanghai und so weiter. Dort habe ich Früchte und Gemüse gesehen, die du hier nicht mal aufdem Rungis findest, Xavier«, sagte Boudier in Anspielung auf Frankreichs riesigen Großmarkt, ein über 200 Hektar großes Gelände südlich von Paris. »Es war unglaublich.«
In diesem Moment kam der Kellner zurück und stellte vor dem chef de cuisine eine kleine, braun glänzende Pappschachtel ab, die aussah wie die Geschenkpackung einer Confiserie. Boudier öffnete sie und hielt Kieffer triumphierend eine grüne Frucht vor die Nase, die den Luxemburger entfernt an eine Sanduhr erinnerte. »Eine vietnamesische Min Xien, Xavier. Schon mal gesehen?«
»Nein, noch nie.« Kieffer nahm die Frucht in die Hand und begutachtete sie. Die Min Xien roch ein wenig nach Erdbeere, mit einem Hauch von Papaya. Sie fühlte sich sehr fest an, wie eine grüne Tomate. »Riecht nicht schlecht. Schmeckt sie denn gut?«
»In etwa wie unreife Schattenmorellen – ziemlich ungenießbar. Man muss sie entkernen, der Länge nach in dünne Scheiben schneiden und mit einem Berg von Zucker ankaramellisieren. Und dann mit hellem Port ablöschen, am besten
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