Teufelsfrucht
ehemaligen Chefs zuletzt besucht hatte; doch während seiner dreijährigen Lehrzeit und der sechs Jahre als Postenchef war er die Rue des Alliés viele Hundert Male entlanggefahren. Kieffer kam nun deutlich langsamer voran, weil inzwischen viele Pendler auf der Straße waren. Nachdenklich blickte er auf den Fluss, der neben der Straße vorbeizog. Er erinnerte sich an seinen letzten Höflichkeitsbesuch bei Boudier. Damals hatte sein Lehrmeister nicht gut ausgesehen.
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7
Zwei Jahre zuvor
Es war die Zeit zwischen 15 und 17 Uhr, die sich Kieffer für seine Stippvisite ausgesucht hatte, jene kostbaren Stunden, wenn der mittägliche Ansturm vorüber ist und der abendliche Wahnsinn aus Überbuchungen, À-la-carte-Essen und Zehn-Gänge-Menüs noch erfreulich weit weg scheint. Die Augustsonne brannte und der Garten des »Renard Noir« war fast menschenleer. Während er auf Boudier wartete, genehmigte sich Kieffer einen frühen Pastis mit viel Eis und schaute auf die Marne, die in 20 Metern Entfernung gemächlich vorbeifloss.
Seit er das kleine Spezialitätenrestaurant in seiner Heimatstadt eröffnet hatte, war er nicht mehr hier gewesen. Auf den ersten Blick erschien ihm das »Renard« unverändert, wie aus der Zeit gefallen. Im Speiseraum standen die gleichen, mit zu viel Gold verzierten Louis-XIV -Möbel, hingen die gleichen vorrevolutionären Ölschinken mit den gepuderten Adligen und den hochherrschaftlichen Jagdszenen. Er war durch das fast leere Restaurant geschlendert und hatte den einen oder anderen ihmnoch von früher bekannten Kellner freundlich begrüßt und ein wenig in der Speisekarte geblättert. Auch hier schien alles beim Alten. Doch dann waren ihm gewisse Nachlässigkeiten aufgefallen.
Es waren Kleinigkeiten, welche die meisten Gäste nicht bemerken würden. Er sah, wie ein Kellner einen Dessertteller mit einer Eiskreation vorbeitrug. Am Rand des Tellers lief Soße herunter. Dann bestellte er ein Stück von Boudiers viel gerühmter tarte Tatin nouvelle. Sie schmeckte nicht wie früher – der Kuchen war sicherlich ordentlich, aber meilenweit von jenem Dessert entfernt, das der Gastrokritiker des »Figaro« vor zehn Jahren als »die bemerkenswerteste Neuerfindung eines französischen Dessertklassikers seit Auguste Escoffiers Reinterpretation des soufflé français à la vanille« bezeichnet hatte.
Bei seinem Gang zur Toilette sammelte Kieffer weitere Indizien dafür, dass Boudiers Equipe möglicherweise nicht mehr jene Präzision und Akkuratesse an den Tag legte, die für ein Sternerestaurant unabdingbar waren. Ihm fiel der Bezug eines Louis-XIV -Stuhls auf, der am Rand aufgeplatzt war. In der Nähe des Likörwagens wies der Teppich deutlich sichtbare Flecken auf. All das waren Kleinigkeiten, die das »Renard« jedoch einen Stern kosten konnten, wenn ein aufmerksamer Restauranttester sie bemerkte.
Kieffer dachte gerade über einen weiteren Pastis nach, als Boudier durch den Garten auf ihn zukam. Der Alte sah müde aus, zwang sich aber zu einem Lächeln. »Xavier, willkommen.« Boudier klopfte seinem Zögling auf die Schulter und ließ sich in einen der Gartenstühle fallen. Kaum hatte er sich gesetzt, begann er zu husten. Durch ein besticktes Taschentuch, das sich sein Mentor umgehend vor den Mund hielt, konnte Kieffer jenes bellende Hack-hack-hack vernehmen, das sich nach der sechsten oder siebten nicht auskurierten Erkältung einstellt.
»Alles in Ordnung, Paul? Soll ich meine Zigarette ausmachen?«
»Mon dieu, non, gib mir lieber eine. Tut mir leid, aber ich bin ein wenig überarbeitet. Mein Gott, war das eine Nacht! Ich brauche dringend Kaffee.« Boudier winkte einen der Kellner zu sich herüber und orderte Espresso. Kieffer beobachtete, wie Boudier nach seinen auf dem Tisch liegenden Ducal griff und sich mit fahrigen Handbewegungen eine Zigarette ansteckte.
»Wie geht es dir, Xavier?«
»Nicht übel, mein Restaurant läuft von Monat zu Monat besser.«
»Hmmm. Was kochst du so?«
»Heimische Klassiker. Gromperekichelcher, Judd mat Gaardebounen, solche Sachen.«
»Kartoffelpuffer und Kasseler mit Saubohnen? Himmel, Xavier, das ist doch meilenweit unter deiner Würde. Du bist etwas aus der Übung, klar – und auch aus dem Leim, wenn ich das sagen darf. Aber du könntest immer noch in jedem Pariser Einsterner einen Posten als Souschef bekommen, vielleicht sogar als Küchenchef. Ich kann dir sofort ein Empfehlungsschreiben ausstellen.« An dieser Stelle wurde Boudier von einem weiteren,
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