Teufelsfrucht
Tempo weitertragen. Dann erreichte Kieffer die Abbaye de Neumünster, das Wahrzeichen von Grund. Direkt dahinter verlief die alte Stadtmauer. Die sogenannte Wenzelsmauer führte von dem oberhalb des rechten Flussufers gelegenen Stadttor quer über den Fluss und endete am Bockfelsen. Die Alzette verwandelte sich vor der Mauer in ein stehendes, von Schilf und Seerosen bedecktes Gewässer und floss dann langsam durch die vergitterten Öffnungen im Befestigungswall – Öffnungen, die viel zu schmal waren, als dass sich ein Mann von Kieffers Leibesfülle hätte durch sie hindurchzwängen können.
Kieffer befand sich nun kurz vor der Abtei. Die beiden Männer hatten mit südfranzösischem Akzent gesprochen. Er musste einfach darauf hoffen, dass sie sich in der Luxemburger Unterstadt nicht auskannten. Er würde versuchen, an der dem Bock zugewandten Uferseite an Land zu gehen. Hier unten, nahe der Wenzelsmauer, gab es keine hohen Kanalmauern, sondern eine sanft ansteigende, gräserne Böschung. Kieffer schaffte es durch das Schilf am Uferrand in ein paar Sekunden auf trockenes Gelände. Dort setzte er sich einen Moment lang hin. Ihm war kalt, und er zitterte.
Er schaute auf die rechts von ihm liegende Abtei mit ihrem spitzen Kirchturm. Die gelb verputzten Gebäude aus dem Mittelalter waren eine wichtige Touristenattraktion und wurden auch des Nachts angestrahlt, damit man sie von den Aussichtsplateaus in der Oberstadt bestaunen konnte. Das Kloster leuchtete wie ein Märchenschloss in der Luxemburger Nacht. Sein Glanz tauchte die gesamte Umgebung in einen goldfarbenen Schein – den Bock, die Alzette – und die Uferböschung, auf der Kieffer saß.
»Schäissdreck!«, entfuhr es ihm. Wie hatte er so dämlich sein können, sich ausgerechnet hierher zu flüchten? Erst in diesem Moment wurde ihm klar, dass die mit Gras und Büschen bewachsene Stelle, auf der er tropfnass und fröstelnd saß, vermutlich zu dieser Zeit einer der hellsten Orte in der gesamten Stadt war. Vor ihm die Abtei, die von mehreren, im Fels verankerten Strahlern angeleuchtet wurde. Hinter ihm der Bockfelsen, den weitere, am gegenüberliegenden Hang montierte Flutlichter illuminierten. Das Ganze sah wunderbar aus. Es war aber auch der denkbar ungünstigste Ort, um sich auszuruhen, wenn man auf der Flucht vor zwei skrupellosen Verbrechern war.
Kieffer beeilte sich, eine schattige Stelle hinter einem Felsvorsprung aufzusuchen, doch es war bereits zu spät. Dank der Beleuchtung, die in einem Fußballstadion kaum besser gewesen wäre, konnte er die sich ihm nähernde Gestalt gut erkennen. Der Mann war Mitte dreißig und trug dieselbe schwarze Kluft wie jener erste Verfolger, der in Kieffers Garten unfreiwilligen Flugunterricht genommen hatte. Offenbar hatte der Mann die Alzette an der Münsterbrücke gekreuzt und war zu Kieffers rechter Hand die Rue des Trèves emporgeeilt, bis zur Wenzelsmauer. Nun kletterte er an der Mauer entlang und kam Kieffer rasch näher. In zwei, höchstens drei Minuten würde er hier sein. Auch dieser zweite Verfolger bewegte sich auf dem steinigen Untergrund sicher und behände wie jemand, der physisch in Topform war. Wie ein Tiger auf der Jagd. Kieffer selbst hingegen, da machte er sich nichts vor, besaß die Ausdauer und Schnelligkeit eines verfetteten Hauskaters. Der Mann würde ihn mühelos einholen.
Er blickte den steilen Bockfelsen empor. 40 Meterüber ihm lag unerreichbar die Altstadt. Die einzige Möglichkeit hinaufzugelangen war ein Aufzug, der durch einen in den Fels getriebenen Schacht von Grund in die Oberstadt führte. Der Lift lag flussaufwärts – in der Richtung, aus der er gerade gekommen war. Er bezweifelte, dass er die etwa hundert Meter durch das offene Gelände schaffen würde, ohne von dem Südfranzosen eingeholt zu werden.
Kieffers Blick fiel auf eine Einbuchtung im Fels, über der ein kleines Schild mit der Aufschrift »Aux casemates« hing. Die Kasematten! Warum war er nicht schon früher darauf gekommen? Rasch lief er auf die Einbuchtung zu, die sich beim Näherkommen als höhlenartiger Eingang in den dunklen Fels entpuppte. Kieffer zögerte nicht und lief geradewegs in den pechschwarzen Tunnel.
Von außen wirkte der aus Sandstein bestehende Bockfelsen wie ein massiver Block, tatsächlich war er jedoch so löchrig wie ein Schweizer Käse. Ende des 17. Jahrhunderts hatten die Spanier, die das Großherzogtum damals okkupierten, begonnen, den Felsen in der Stadtmitte zu einer Befestigungsanlage mit
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