Teufelskreise (German Edition)
Theo zwanzig weitere Stunden überlebt?«
Dr. Lincoln dachte nach. »Sie bräuchte dringend eine Operation, aber die kann ich hier nicht durchführen. Außerdem Sauerstoff. Ich habe Tanks dabei, die damit gefüllt sind, außerdem eine Nasalkanüle für einen großen Hund, die auch bei ihr passen müsste.« Er sah mich an. »Ich bleibe hier und versuche sie noch durch einen weiteren Tag zu bringen.«
»Aber sollten wir nicht besser warten, bis sie ein wenig kräftiger ist?«, fragte ich.
»Sie wird nicht kräftiger werden.«
Johnny ließ den Arzt los und packte dafür mich bei den Schultern. »Entweder schafft sie es, oder sie wird bei dem Versuch sterben, Red. Könnte sie selbst entscheiden, dann würde sie das Risiko eingehen, und das weißt du auch. Alles oder nichts – so hat Theo gelebt.« Er ließ mich los. »Und so würde sie auch sterben wollen.«
Mit brennenden Augen betrachtete ich Theos Gesicht. »Ich weiß nicht, ob –«
»Du musst es versuchen«, flüsterte er. »Denn eins ist sicher: Wenn du es nicht tust, stirbt sie auf jeden Fall.«
Aber würden wir es tatsächlich schaffen, den Tod abzuwenden?
Ich wachte gegen zehn Uhr auf, fühlte mich aber kaum erholt. Nicht die beste Voraussetzung, denn es gab viel zu tun.
Im Erdgeschoss fand ich Dr. Lincoln laut schnarchend in meinem Lieblingssessel vor. Johnny hatte sich auf der für ihn viel zu kurzen Couch ausgestreckt.
Vivian hatten wir samt Küchenstuhl ins Wohnzimmer verfrachtet und sie auf die Seite gelegt; unter ihrem Kopf eins meiner alten braunen Kissen. Sie roch leicht nach Baldrian. Anscheinend hatte Johnny sie mit dem Inhalt aus der Flasche bespritzt.
Nana saß in der Küche und las in dem Codex. In dem Aschenbecher neben ihr war ihre Zigarette zu einem einzigen Aschehäufchen heruntergebrannt. Offenbar war sie auf etwas gestoßen, das sie mehr als ihre Marlboro interessierte.
Der verführerische Duft von Kaffee stieg mir in die Nase. Während ich mir eine Schale mit Porridge in der Mikrowelle erhitzte, fiel mein Blick auf die Flasche mit der Baldrianflüssigkeit neben dem Herd. Ich zog eine Schublade auf, nahm einen Filzstift heraus und beschriftete die Flasche: »Achtung, einschläfernd!« Ich wollte verhindern, dass jemand aus Versehen davon trank. Mit meinem Lieblingskaffeebecher, auf dem die Lady von Shalott von Waterhouse abgebildet war, und der Schale Porridge ließ ich mich Nana gegenüber nieder. »Hast du etwas Interessantes gefunden?«
Nana griff nach ihrer Zigarette und fluchte, als sie bemerkte, dass nichts mehr von ihr übrig war. »Ob ich etwas Interessantes gefunden habe?«, wiederholte sie langsam und lehnte sich zurück, steif vom langen Sitzen mit gebeugtem Rücken. Wahrscheinlich war sie gar nicht erst ins Bett gegangen. »Du weißt dieses Buch nicht zu schätzen«, sagte sie verärgert. Ihr Bein wippte wütend, und mir kam der Gedanke, dass diese Reaktion möglicherweise genetisch bedingt war.
Da Nana nicht geschlafen hatte und äußerst gereizt war, bemühte ich mich ganz besonders, ruhig zu bleiben. »Ich verstehe nicht,wasdas Buch sein soll. Erklär’s mir.«
Andächtig legte Nana die Handflächen auf die Seiten. »Für einen Laien verständlich ausgedrückt: Für uns Hexen ist dieses Buch so etwas wie der Heilige Gral oder der Kessel von Annwfn.« Sie sprach das keltische Wort mit der seltsamen Schreibweise folgendermaßen aus: An- OO -wen.
Na gut, jetzt war ich doch beeindruckt. Diesen Vergleich verstand ich; auch Artus und seine Männer hatten nach dem mächtigen Kessel mit dem perlenbesetzten Rand gesucht, der Gral war eine der wichtigsten heiligen Reliquien gewesen. »Aber ich habe noch nie von dem ›Trivium-Codex‹ gehört.« Oder von einer Lustrata, ergänzte ich im Stillen.
»Das ist wahrscheinlich mein Fehler.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Nein, ich meine es ernst. Ich habe dir nie unsere Legenden und Mythen erzählt.«
»Warum nicht?«
Sie seufzte tief, und ich konnte fühlen, wie ihr Ärger mit dem Seufzer verrauchte. »Das war die Aufgabe deiner Mutter.« Sie legte ihre Hand auf meine. Nana war normalerweise kein Mensch, der gern auf Tuchfühlung ging. Nicht dass sie mich nie umarmt hätte, doch meist zeigte sie ihre Zuneigung auf andere Art. Die kleine Geste bedeutete mir viel. »Ich habe für dich gesorgt, so gut ich konnte, glaub mir.«
»Ich weiß, Nana.« Aber ich hatte nicht gewusst, dass sie meiner Mutter ihr Verschwinden genauso übel nahm wie ich.
»Wenn ich damals schon
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