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Teufelszeug

Teufelszeug

Titel: Teufelszeug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Lee anrief, nicht andersherum, und dass sich Lee keine allzu große Mühe gab, die Verbindung zu halten. Lee war schon immer ein wenig distanziert gewesen, und Ig hatte nicht gleich bemerkt, wie umstandslos und gründlich er abserviert worden war. Nach einer Weile summierten sich die Entschuldigungen und Vorwände dermaßen, dass sich selbst Ig, ein ausgemachter Soziallegastheniker, ausrechnen konnte, dass es so nicht weiterging. Außerdem arbeitete Lee für einen Kongressabgeordneten von New Hampshire und durfte sich nicht mit dem Hauptverdächtigen in einem Vergewaltigungs-und Mordfall sehen lassen. Sie hatten sich nicht gestritten, und es hatte auch sonst keine hässlichen Szenen zwischen ihnen gegeben. Ig hatte Verständnis für seinen Freund und ließ ihn ziehen. Lee - der arme, kränkelnde, fleißige, einsame Lee - hatte eine Zukunft. Ig nicht.
    Vielleicht lag es daran, dass er an die Sandbank gedacht hatte, jedenfalls fand er sich auf einmal an der Knowles Road wieder, wo er den Wagen direkt unterhalb der Old Fair Road Bridge anhielt. Falls er auf der Suche nach einem Ort war, um ins Wasser zu gehen, hätte er keinen besseren finden können. Die Sandbank reichte gute dreißig Meter in den Fluss hinein, bevor sie zu einer tiefen, reißenden blauen Strömung hin steil abfiel. Ig brauchte sich nur die Taschen mit Steinen zu füllen und direkt hineinzuwaten. Ebenso gut
konnte er auf die Brücke klettern und springen; hoch genug war sie. Um auf Nummer sicher zu gehen, konnte er die Felsen anvisieren statt den Fluss. Allein der Gedanke ließ ihn zusammenzucken. Er stieg aus, setzte sich auf die Motorhaube und lauschte dem Brummen der Trucks, die auf ihrem Weg nach Süden über ihn hinwegrasten.
    Früher war er oft hier gewesen. Wie die alte Gießerei an der Route 17 war die Sandbank ein beliebter Ort bei Jugendlichen, die viel Zeit, aber kein Ziel hatten. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er einmal mit Merrin hier gewesen war - der Regen hatte sie überrascht, und sie hatten unter der Brücke Schutz gesucht. Damals gingen sie noch auf die Highschool. Sie hatten beide keinen Führerschein, also auch keinen Wagen, zu dem sie hätten flüchten können. Sie teilten sich einen durchweichten Korb frittierter Muscheln und kauerten sich auf die von Unkraut überwucherte Böschung. Es war so kalt, dass sie ihren Atem sehen konnten, und er wärmte ihre nassen, starren Finger in seinen Händen.
    Schließlich entdeckte er eine zwei Tage alte Zeitung, die voller Flecken war und in der sie lustlos blätterten, bis Merrin vorschlug, dass sie etwas Besonderes damit machen sollten - etwas Schönes, für all diejenigen, die traurig auf den Fluss hinausschauten. Sie spurteten durch den Nieselregen den Hügel hinauf, kauften im 7-Eleven Geburtstagskerzen und rannten dann wieder zurück. Merrin zeigte ihm, wie man aus den Zeitungsseiten kleine Boote faltete. Sie zündeten die Kerzen an, stellten sie hinein und setzten die Boote eines nach dem anderen in der einbrechenden Dämmerung auf das Wasser - eine lange Kette kleiner Flämmchen, die gleichmütig durch die nasse Finsternis glitten.
    »Gemeinsam sind wir etwas ganz Besonderes«, sagte sie zu ihm, ihre kalten Lippen so dicht an seinem Ohrläppchen,
dass ihn ein Schauder überlief; ihr Atem verströmte den Geruch von Muscheln. Sie zitterte unentwegt und versuchte, einen Lachanfall zu unterdrücken. »Merrin Williams und Iggy Perrish retten die Welt, mit jedem Papierschiffchen wird sie ein bisschen besser.«
    Sie sah nicht - oder vielleicht wollte sie es einfach nicht sehen -, dass sich die Schiffchen schnell mit Regenwasser füllten und kenterten. Kaum hundert Meter vom Ufer entfernt gingen sie unter, und die Kerzen erloschen.
    Als er daran zurückdachte, wie es damals gewesen war - wie er damals gewesen war -, beruhigte sich der Wirbelsturm seiner außer Kontrolle geratenen Gedanken. Vielleicht zum ersten Mal an diesem Tag konnte Ig, ohne in Panik zu verfallen, überlegen, was mit ihm geschah.
    Wieder einmal fragte er sich, ob er einfach den Bezug zur Realität verloren hatte - ob möglicherweise alles, was er im Verlauf des Tages erlebt hatte, nur Einbildung gewesen war. Es wäre nicht das erste Mal, dass er Phantasie und Wirklichkeit miteinander verwechselte, und er wusste aus Erfahrung, dass er für religiöse Wahnvorstellungen besonders anfällig war. Er hatte den Nachmittag nicht vergessen, den er in dem »magischen Baumhaus« verbracht hatte. In acht Jahren war kaum ein Tag

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