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Teufelszeug

Teufelszeug

Titel: Teufelszeug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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dem neun halb heruntergebrannte Kerzen steckten. In einer der Ecken befand sich ein Sessel mit schimmligem moosfarbenem Polster. Vor dem Fenster rauschten die Blätter, und ihre Schatten glitten über Merrins Haut, während das Baumhaus in seiner Astgabel leise knarrte. Wie ging noch mal der Kinderreim? Ig and Merrin up in a tree, K-I-S-S-I-N-G . Nein, das war es nicht. Rock-a-bye baby, in the treetop . Rock-a-bye. Ig schloss die Falltür hinter sich und schob den Sessel darauf, damit niemand hindurchkommen und sie überraschen konnte. Er zog sich aus, und für eine Weile vergaßen sie die Welt um sich herum.
    Hinterher fragte Merrin: »Was sollen denn die Kerzen und die ganzen Figuren?«
    Ig krabbelte auf allen vieren zu ihnen hinüber; Merrin richtete sich auf und versetzte ihm einen Klaps auf den Hintern, und er zog lachend die Beine an.
    Er kniete sich vor das Tischchen. Der Leuchter stand auf
einem schmutzigen Pergamentblatt mit großen hebräischen Blockbuchstaben darauf. Die Kerzen darin waren schon ein ganzes Stück heruntergebrannt, und um den Messingfuß hatte sich ein filigranes Muster aus Wachsstalaktiten und -stalagmiten gebildet. Eine Porzellan-Maria - eine ziemlich scharfe Jüdin - war vor einem Engel des Herrn auf ein Knie gesunken. Der Engel war eine große sehnige Gestalt in einem togaartigen Gewand. Maria streckte ihren Arm aus, vermutlich um seine Hand zu fassen, doch so, wie die Figuren aufgestellt waren, berührte sie nur seinen goldenen Oberschenkel, und es sah aus, als hätte sie es auf seinen Schwengel abgesehen. Der Bote des Herrn starrte ebenso missbilligend wie hochmütig auf sie hinab. Etwas entfernt stand ein weiterer Engel, der das Gesicht zum Himmel erhoben hatte; er hatte den anderen Figuren den Rücken zugekehrt und blies traurig in ein Horn.
    Mitten in diese Szenerie hatte irgendein Witzbold einen grauhäutigen Alien mit schwarzen Insektenaugen platziert. Er kauerte hinter Maria und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Diese Figur war nicht aus Porzellan, sondern aus Gummi, mit beweglichen Armen und Beinen. Sie stammte aus einem Film; Unheimliche Begegnung der dritten Art, vermutete Ig.
    »Weißt du, was für eine Schrift das ist?«, fragte Merrin. Sie war auf den Knien zu ihm herübergerutscht.
    »Hebräisch«, erwiderte Ig. »Es stammt aus einem Phylakterium.«
    »Zum Glück nehme ich die Pille«, sagte sie. »Du hast gerade vergessen, dein Phylakterium überzuziehen.«
    »Ist doch ganz was anderes.«
    »Das weiß ich doch«, sagte sie.
    Er lächelte still in sich hinein und wartete.
    »Was ist ein Phylakterium?«, fragte sie schließlich.

    »Das tragen die gläubigen Juden auf dem Kopf.«
    »Oh. Ich dachte, das hieße Kippa.«
    »Nein. Da gibt’s noch was anderes, was Juden auf dem Kopf tragen. Oder manchmal auch um den Arm. Das weiß ich nicht mehr so genau.«
    »Und was steht drauf?«
    »Keine Ahnung. Irgendwas aus der Bibel.«
    Sie deutete auf den Engel, der ins Horn blies. »Der sieht aus wie dein Bruder.«
    »Ach was«, sagte Ig … obwohl er zugeben musste, dass eine gewisse Ähnlichkeit durchaus vorhanden war - die breiten Schultern, die faltenlose Stirn, die majestätischen Gesichtszüge. Allerdings würde Terry niemals so ein Gewand anziehen, außer vielleicht bei einer Togaparty.
    »Was sind das alles für Sachen?«, fragte Merrin.
    »Das ist ein Schrein«, sagte Ig.
    »Und wem ist er geweiht?« Sie wies mit einer Kopfbewegung auf den Alien. »Dem heiligen E.T.?«
    »Keine Ahnung. Vielleicht bedeuten diese Figuren jemandem was. Vielleicht sollen sie an jemanden erinnern. Ich glaube, dass sich hier jemand einen stillen Ort zum Beten eingerichtet hat.«
    »Das glaube ich auch.«
    »Möchtest du beten?«, fragte Ig automatisch und schluckte dann schwer, weil er das Gefühl hatte, etwas Obszönes gefragt zu haben, etwas, was sie anstößig finden könnte.
    Merrin betrachtete ihn durch halbgesenkte Augenlider und lächelte verschmitzt, und zum ersten Mal überhaupt kam ihm der Gedanke, sie könnte ihn für ein klein wenig verrückt halten. Dann schaute sie sich um, betrachtete das Fenster, die sich kräuselnden gelben Blätter davor und die verwitterten alten Wände, die in helles Sonnenlicht getaucht
waren. Schließlich wandte sie sich wieder ihm zu und nickte.
    »Klar«, sagte sie. »Allemal besser als in der Kirche.«
    Ig faltete die Hände, senkte den Kopf und wollte gerade anfangen zu sprechen, als Merrin ihn unterbrach.
    »Willst du nicht die Kerzen anzünden?«, sagte sie.

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