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Teufelszeug

Teufelszeug

Titel: Teufelszeug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Schwierigkeiten bewahrt - sie hatte ihn buchstäblich vor sich selbst bewahrt.
    Merrin würde bestimmt nicht lange auf sich warten lassen. Aber erst musste er noch diverse Leute anrufen. Er wählte die Nummer des Arztes und teilte ihm mit, seine Mutter sei entschlafen. Er rief seinen Vater in Florida an. Er rief im Büro des Kongressabgeordneten an und sprach sogar kurz mit ihm selbst. Der Kongressabgeordnete fragte, ob Lee mit ihm zusammen beten wolle, jetzt, am Telefon. Lee sagte Ja. Lee sagte, er danke Gott für die letzten drei Monate mit seiner Mutter. Sie seien kostbar gewesen. Sie schwiegen einen Moment, beide mit dem Telefonhörer in der Hand. Schließlich räusperte sich der Kongressabgeordnete ein wenig pathetisch und sagte, er werde Lee in seine Gebete einschließen. Lee dankte ihm und verabschiedete sich.
    Als Letztes rief er Ig an. Er hatte gedacht, dass Ig möglicherweise in Tränen ausbrach, aber Ig überraschte ihn wieder einmal und sprach gelassen und warmherzig mit ihm. Lee war im Lauf der vergangenen fünf Jahre aufs College gegangen, hatte Seminare in Psychologie, Soziologie, Theologie, Politikwissenschaften und Medienwissenschaften belegt, aber sein Hauptfach war »Igologie«, und obwohl er sich Jahre lang wirklich bemüht hatte, diese Wissenschaft zu meistern, konnte er Igs Reaktionen nicht immer voraussehen.

    »Ich weiß wirklich nicht, woher sie die Kraft hatte, so lange durchzuhalten«, sagte Lee.
    »Von dir, Lee«, erwiderte Ig. »Die Kraft hast du ihr gegeben.«
    Es gab nicht viel, was Lee Tourneau lustig fand, aber jetzt musste er doch laut lachen. Er versuchte, seine Belustigung mit einem heiseren Schluchzen zu überspielen. Vor Jahren schon hatte Lee herausgefunden, dass er auf Kommando losheulen konnte und dass jemand, der weinte, ein Gespräch in jede Richtung lenken konnte, die ihm zupasskam.
    »Vielen Dank«, sagte er - etwas, was er im Laufe der Jahre von Ig gelernt hatte. Nichts gefiel den Leuten besser, als wenn man sich bei ihnen wiederholt und grundlos bedankte. Dann fuhr er mit erstickter Stimme fort: »Ich muss jetzt auflegen.« Es war genau der richtige Satz und sogar wahr, gerade sah er nämlich, wie Merrin in die Auffahrt einbog; sie saß hinter dem Steuer des Kombis ihres Vaters. Ig sagte, er würde in Bälde vorbeischauen.
    Lee beobachtete Merrin durch das Küchenfenster, während sie den Gartenweg heraufkam und an ihrer Bluse zupfte. Sie war adrett gekleidet und trug einen blauen Leinenrock und eine weiße Bluse, die am Hals offen stand, so dass ihr Goldkreuz zu sehen war. Offenbar hatte sie sich genau überlegt, was sie anziehen sollte, was für einen Eindruck sie machen wollte. Er trank seinen Rum mit Cola auf dem Weg zur Haustür aus und öffnete sie, als Merrin gerade die Hand hob, um anzuklopfen. Seine Augen brannten noch immer von seinem Gespräch mit Ig, und er fragte sich, ob er ein wenig blinzeln sollte, damit ihm die Tränen über die Wangen liefen, entschied sich dann aber dagegen. Es war besser, wenn es so aussah, als würde er um Fassung ringen.

    »Hallo, Lee«, sagte Merrin. Momentan sah sie selbst so aus, als würde sie mit den Tränen kämpfen. Sie nahm sein Gesicht in die Hände und zog ihn zu sich heran.
    Es war nur eine kurze Umarmung, aber für einen Moment drückte er seine Nase in ihr Haar, und ihre kleinen Hände lagen auf seiner Brust. Ihr Haar verströmte den durchdringenden Geruch von Zitrone und Minze. Für Lee war das der faszinierendste Duft, den er je gerochen hatte, besser noch als nasse Muschi. Er hatte eine Menge Mädchen flachgelegt und wusste, wie jede einzelne von ihnen roch und schmeckte, aber Merrin war anders. Manchmal dachte er, dass nur ihr Geruch daran schuld war, dass er unablässig an sie dachte.
    »Wer ist noch da?«, fragte sie, als sie in die Diele trat. Sie hatte den Arm noch immer um seine Taille liegen.
    »Du bist die Erste …«, erwiderte Lee, und fast hätte er gesagt: … die ich angerufen habe . Aber dann wurde ihm klar, dass er damit einen Fehler begehen würde. Das würde sie irritieren. Es wäre unpassend. Stattdessen schloss er: »… die gekommen ist. Ich hab Ig angerufen und dann dich. Ich war völlig durcheinander. Eigentlich hätte ich zuerst meinen Vater anrufen sollen.«
    »Hast du mit ihm gesprochen?«
    »Gerade vor ein paar Minuten.«
    »Okay. Schon in Ordnung, Lee. Möchtest du dich hinsetzen? Soll ich sonst noch jemand anrufen?«
    Ohne sie zu fragen, führte er sie zum Gästezimmer, in dem seine

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