Teuflisch erwacht
oberste Schreibtischschublade auf und griff nach dem Schnellhefter, den er auf einem Stapel platziert hatte. Er legte ihn auf das dunkle Ebenholz und schob ihn zu Kevin hinüber.
»Was ist das?«
Was, was, was. Die Fragerei nervte. Besaß der Junge denn keinen Funken Verstand?
Kevin blätterte durch den Ordner. Seine Miene verdunkelte sich mit jeder Seite. Angewidert verzog er das Gesicht.
»Die Fingerless morden munter weiter. Das sind ihre jüngsten Opfer. Wir können nicht eingreifen, denn wir haben nichts und niemanden, der sie aufhalten könnte. Uns fehlt ein Team. Ich weiß, dass Sie Miss Graf sehr nahestehen, Kevin.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo sie ist? Ich meine, duldet sie das alles?« Er tippte auf den Schnellhefter und schüttelte fassungslos den Kopf.
»Ich befürchte, dass Miss Graf die Seite gewechselt hat. Sie hat sich von diesem Magier blenden lassen, das haben Sie ja selbst gesehen. Mir stellt sich die Frage, ob sie freiwillig handelt oder unter einem Bann steht.«
»Was können wir tun?« Kevin schlug die Stirn in Falten. Er klang aufrichtig besorgt.
»Die einzige Chance, die Magier zu schlagen, haben wir, wenn wir Miss Graf zurückbefördern. Sie wird nicht freiwillig kommen, so viel steht fest. Deshalb hoffen wir, dass Sie ihr genug bedeuten.«
Kevin keuchte. »Ich bin der Lockvogel? Sie wollen mich als Druckmittel benutzen?«
»Druckmittel ist ein unschönes Wort. Sagen wir doch, wir möchten ihr die Möglichkeit geben, die Dinge etwas klarer zu sehen. Natürlich werden wir Ihnen nicht wirklich etwas antun, seien Sie unbesorgt. Wenn Miss Graf unter einem Fluch steht, wird die Aktion ohnehin nicht viel bringen. Aber für den Fall, dass sie aus freien Stücken handelt, wird sie vielleicht auftauchen, um Ihnen zu helfen.« Aldwyn machte eine Pause. »Hoffen wir, dass sie kommen wird.«
»Und wenn sie es nicht tut?«
»Sie täte besser daran. Viele von uns sind sehr, sehr wütend. Es fiel bereits die Frage, ob Miss Graf nicht sogar den Tod verdiene. Die einzige Möglichkeit, Buße für das zu tun, was sie mitverschuldet hat, besteht darin, sich jetzt für die richtige Seite zu entscheiden. Ich befürchte, dass wir sie nur mit Nachdruck überzeugen können. Wenn überhaupt.«
Kevin starrte eine Weile ins Leere. Sein Gesicht hatte an Farbe verloren. »Was geschieht, wenn sie nicht kommt?«, wiederholte er leise.
»Dann werden wir ein neues Team benötigen. Es würde viel Zeit in Anspruch nehmen, bis unsere Späher die geeigneten Leute finden. Bis dahin sterben viele Menschen und die Fingerless werden stärker. Und leider würde sich Miss Graf mit an die Spitze der Abschussliste setzen. Sie kann von Glück reden, dass sie dort noch nicht steht. Ich musste mich sehr stark für sie machen, aber lange kann ich ihr den Rücken nicht mehr frei halten.«
Kevin zuckte zusammen. »Was muss ich tun, um Anna zu retten?«
Aldwyn unterdrückte ein Grinsen. Die Menschen waren so blind und stumpfsinnig, wenn sie aus Liebe handelten. Ein Glück, dass er vor dieser Art Blindheit verschont blieb. »Leider wissen wir nicht, wo sich Miss Graf zurzeit aufhält. Sie scheint wie vom Erdboden verschluckt. Wir werden unsere Späher ausschicken, sie aufspüren und ihr eine Nachricht zukommen lassen. Wir müssen ihr weißmachen, wir hätten Sie in unserer Gewalt«, erklärte Aldwyn.
Natürlich hatten sie ihn in ihrer Gewalt. Doch Kevin war stupide genug, es nicht zu erkennen. Er hatte keine andere Wahl, aber die vergangenen Ereignisse zeigten, dass es einfacher lief, wenn die Geiseln glaubten, aus freien Stücken zu handeln. Am Ergebnis änderte das natürlich nichts. Kevin handelte aus Liebe. Eine stärkere Macht gab es nicht. Wenn Anna Graf wenigstens einen Teil seiner Zuneigung erwiderte, würde sie in die Falle tappen. Sie konnten zupacken, sobald sie einen Fuß über die Schwelle setzte. Sebastian Fingerless würde ihr unweigerlich folgen und sie taten gut daran, ihn vorbereitet und auf vertrautem Terrain anzugreifen. Anna reihte sich schon lange in die Schlange derer, die es zu töten galt. Das neue Jägerteam stand längst bereit, auch wenn er Kevin etwas anderes vorgegaukelt hatte. Es wartete auf die perfekte Gelegenheit, zuzuschlagen, und für diese Gelegenheit würde Kevin schon sorgen. Sie hatten sich des nervtötenden Jungen nur noch nicht entledigt, weil sie ihn noch brauchten. Ganz zum Schluss, nachdem Sebastian, Anna und diese Marla ins Gras gebissen hatten, würden sie Kevin in die Hölle
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