Teuflisch erwacht
schicken. Zeugen brauchten sie nicht, sie machten bloß das Leben schwer. Am Ende der Schlacht sollte es niemand geben, der zu viel wusste. Die blütenweiße Weste, die der RFBM augenscheinlich besaß, musste weiter strahlen.
Aldwyn setzte ein honigsüßes Lächeln auf. »Sind Sie dabei Kevin? Holen Sie unsere Anna zurück?«
»Natürlich«, schoss es aus ihm heraus. »Ich werde tun, was Sie für richtig halten, wenn es dabei hilft, sie zu beschützen.«
»Gut. Gegen Mittag wird jemand kommen, der die Aufnahmen mit Ihnen stellt, die wir Miss Graf zukommen lassen werden. Ich hoffe, dass es bald einen Anhaltspunkt darauf gibt, wo sie sich aufhält. Bitte gehen Sie bis dahin auf ihr Zimmer zurück. Auf mich wartet heute noch eine Menge Arbeit.« Aldwyn erhob sich und komplimentierte Kevin aus seinem Büro. Die Zeit drängte. Die Versammlung im Waldschloss, auf der sie mit den neuen Jägern die wahre Vorgehensweise besprechen wollten, stand an und er musste sich sputen, rechtzeitig hinzugelangen. Kevin durfte keinen Wind von dem Treffen bekommen. Es würde nur Fragen aufwerfen und am Ende die Lüge entlarven, die er ihm aufgetischt hatte.
Kevin nickte ihm zu und verschwand die Treppe hinunter.
Ein so folgsamer Junge. Schade, dass er schon bald abtreten musste. Aber es galt nun mal, die Talente zu schützen und auf Verluste durften sie keine Rücksicht nehmen. Priorität blieb Priorität. Gott hatte sie mit einer Aufgabe betraut, als er ihnen die Aufsicht über die Talente gab, und er hatte sicher einen guten Grund, ihre Gefühle unter eine dicke Watteschicht zu packen.
Aldwyn schloss die Tür, fuhr sich durch den Bart und seufzte. Ein wichtiger Tag stand bevor.
12. Kapitel
Lebende Schatten
A nna blickte zu dem riesigen Gebäudekomplex auf. Der Parkplatz war menschenleer, obwohl Hamburg mit über 1,8 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt Deutschlands war. Ein unheimlicher Umstand, wenn sie daran dachte, was ihnen bevorstand. Sie hatte eine gute Sicht auf den Eingang des mehrstöckigen Krankenhauses. Die ersten Raucher standen vor der großen Glasschiebetür und zogen gierig an ihren Glimmstängeln. Sie hatte noch nie eine Zigarette geraucht, denn der Geruch war ihr zuwider. Jedoch fragte sie sich, ob nicht jetzt ein guter Zeitpunkt war, damit anzufangen, denn ihre Nerven flatterten gemeinsam mit ihrem Magen um die Wette. Vor Krankheiten brauchte sie sich jedenfalls nicht mehr zu fürchten, denn Krebs brach wohl kaum in den wenigen Stunden aus, die ihr noch blieben. Falls sie es noch bis zum nächsten Tag schaffte, hatte sie zumindest ihre Volljährigkeit erlebt. Das war doch schon was.
»Willst du wirklich nicht im Wagen warten?« Marla riss sie aus ihren wirren Gedanken. Sie hatte sich derartig lautlos verhalten, dass Anna sie völlig vergessen hatte.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf, darauf bedacht, die Übelkeit nicht wieder aufschwappen zu lassen.
»Dann sollten wir es hinter uns bringen. Noch herrscht kein großes Treiben, es ist gerade erst …«, sie warf einen Blick auf die Uhr, »… sechs Uhr.«
Anna sparte sich die Antwort. Wahrscheinlich brächte sie ohnehin keinen Ton über die Lippen. Die Enge in ihrer Brust drückte plötzlich auf ihren Kehlkopf und sie zog den Kragen der Jacke hinunter. Vielleicht erstickte sie ja an ihren Sorgen, bevor sie einen Fuß über die Schwelle setzte.
Sie überquerten den Parkplatz und der Wind blies ihnen ins Gesicht. Anna vermied es, Marla anzusehen. Sie würde sich selbst nicht im Weg stehen, aber möglicherweise ihre Freundin. Ein Mann auf Krücken, der zu den eisernen Rauchern gehörte, grüßte freundlich. Marla nickte ihm zu, doch Anna schaffte es nicht, sich zu einer höflichen Geste durchzuringen. Bloß weil sie erkannt hatte, dass sie das tun musste, hieß es noch lange nicht, dass sie es auch gern tat. Himmel, der Gedanke war daneben. Wer brachte schon gern einen Menschen um?
Sie traten durch die Glastür. Hinter dem Anmeldeschalter saß eine korpulente Frau mittleren Alters. Sie sah von ihrem Schreibtisch auf, als sie den Eingangsbereich durchquerten, aber hielt sie nicht zurück. Vielleicht kamen öfter Angehörige vor der Arbeit einen Patienten besuchen, oder Besuchszeiten standen nur zur Zierde auf der Anzeigentafel.
Marla übernahm die Führung. Ob sie sich auskannte? Der Geruch von Desinfektionsmitteln und Krankheit stieg brennend in die Nase und verätzte die Schleimhäute. Normalerweise hasste Anna den Geruch von
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