Teuflisch erwacht
Bild. Schnell rief sie sich zur Besinnung. Warum war es diesmal so schwer? Sie durfte nicht aufgeben und konzentrierte sich stärker. Plötzlich begann der Stern sich zu verändern. Ihm wuchsen spärliche Haare und eine hakige, knöcherne Nase. Er zog sich in die Länge, formte Falten und Runzeln und verwandelte sich in ein altes Gesicht. Leblose Augen starrten sie an.
Anna riss die Augen auf und keuchte. Blut rauschte in ihren Kopf, sie rang nach Luft. Ihr Herz schlug so schnell, dass es wehtat. »Ich kann das nicht. Er sieht aus wie sie.« Ihre japsende Stimme bebte. Sie zitterte am ganzen Körper. Schweißperlen traten auf die Stirn. Sie schaute auf den Lavendel und stellte fest, dass sie die Blüte zerdrückt hatte.
»Das ist Einbildung. Lass nicht zu, dass Angst die Kontrolle gewinnt. Reiß dich zusammen.«
Anna schluchzte und hielt nur mit Mühe die Tränen zurück.
»Denk an Sebastian, er riskiert gerade sein Leben.« Marla zog den Joker.
Anna biss die Zähne zusammen. Sie durfte nicht zerbrechen, bevor sie ihn nicht in Sicherheit wusste. Sie warf einen flüchtigen Blick zum Bett und kämpfte eisern die Angst nieder. Waltraud musste sterben, um ihn zu beschützen? Schön, dann würde sie sterben. Entschlossen wagte sie einen neuen Versuch. Komm schon, wo bist du? Der Stern flackerte auf. Größer und realer prunkte er in der Mitte ihres geistigen Blickfelds. Er setzte sich in der Sekunde in Bewegung, in der auch die Melodie ihrer Gabe erklang. Erleichtert stieß Anna die Luft aus und folgte ihm.
Die Schatten ergossen sich vor ihr. Dunkel und unheimlich und nicht ansatzweise so vertraut, wie sie den Ort in Erinnerung hatte. Sie besaß kein Zuhause mehr, nicht mal in der mentalen Welt. Ob es daran lag, dass die Seelen wussten, was sie vorhatte? Oder trugen die winzigen Kerzen die Schuld? Letztendlich war es egal. Sie musste Waltraud finden. Anna sah sich um. Schattenwesen trieben durch das magere Licht.
»Super gemacht, Anna.« Marla klang meilenweit entfernt, aber ihre Stimme erreichte sie immer.
Sie rief sich Waltrauds Gesicht ins Gedächtnis. Wie sollte sie die Frau bloß finden? Die Schatten sahen alle ähnlich aus, besaßen kein Gesicht. Es war unmöglich, die richtige Seele aufzuspüren, vorausgesetzt Waltraud war überhaupt schon da. »Marla, wie soll ich sie finden?« Unruhig flackerten die Seelen auf. Sie fühlten sich sichtlich gestört.
»Sie kann dich bestimmt spüren. Du bist so nah. Ruf sie zu dir.«
»Waltraud Schneider?« Ihre Stimme überschlug sich, selbst in Gedanken. Nichts geschah. Anna zwang sich, ein paar Schritte zu gehen. Langsam schob sie sich zwischen den Seelen hindurch, schärfte ihren Blick und hoffte, die alte Frau zu erkennen. »Das klappt nicht.«
»Dann komm zurück. Ich tue es, ohne, dass du sie gefunden hast.«
Die Worte saugten an ihrem Gewissen, wie eine Mücke das Blut. Marla wollte ohne Gewissheit einen Menschen töten? Wie weit war es bloß mit ihnen gekommen? Sie wünschte sich, einfach in den Schatten zu bleiben, nie wieder aufzutauchen. Die Welt da draußen war so grausam.
»Anna?«
Sie ließ den Blick ein letztes Mal durch die Schatten gleiten und fasste sich ein Herz. Es war längst beschlossen. Sie öffnete die Augen. Dermaßen klar hatte sie selten gesehen. »Wir werden eine Frau töten«, sagte sie leise. Eine kalte Hand schnürte ihr die Kehle zu.
Marla stand neben dem Bett und strich über Waltrauds Gesicht. Die alte Frau reagierte nicht auf die Geste.
»Wir erlösen sie. Schau sie dir an. Wolltest du so leben?«
»Kannst du das lassen? Das macht es nicht besser.«
Marla seufzte und nahm die Hand zurück. Wann hatte sie sich in ein so kaltes und berechnendes Wesen verwandelt? Sie ermordete mir nichts dir nichts eine Frau und verfiel nicht in Panik bei der bloßen Vorstellung? Wut flammte auf, kroch Anna brennend heiß durch die Adern. Sie galt ihr, nicht Marla, weil sie diesen teuflischen Pakt geschlossen hatte. Aber sie brauchte ein Ventil. »Wie kannst du so ruhig bleiben?«, entfuhr es ihr. Sie rappelte sich auf. Schwindel klopfte gegen die Stirn.
»Ich denke an meine Tochter.«
Der Schlag saß. Natürlich, Jenny. Aber befähigte sie das, den Richter über Leben und Tod zu spielen? Die Wahrheit war, es befähigte sie nicht. Andernfalls wäre es leichter gewesen. Doch es änderte nichts. Es musste getan werden.
»Ich fühl mich so schrecklich. Ich kann es nicht mal in Worte packen.« Tränen stiegen auf und kullerten haltlos übers
Weitere Kostenlose Bücher