Teuflische List
und Olli stillte, neben einem Foto von Ralph. Plötzlich war sie sicher, dass die Geschichte über Paul Graves gelogen war – zumindest der Teil über Jules’ Beteiligung. Ihr das in die Schuhe zu schieben war unaussprechlich krank.
Charlies Tod war allerdings keine Lüge gewesen.
Es sei denn … Ein letztes Fünkchen Hoffnung keimte auf … Vielleicht hatte Silas einfach nur vor der Wohnung gehockt und wütend darauf gewartet, dass sie wieder rauskam, und nachdem sie fort war, war tatsächlich ein Räuber gekommen, und vielleicht war Silas Zeuge des Ganzen geworden und hatte sie nur mit der Geschichte bestrafen wollen …
Klammere dich daran, Abigail.
Und das mit dem Missbrauch durch den Vater war auch so eine Sache, mit der man seine Boshaftigkeit leicht erklären konnte.
»Die Polizei hat also nichts Konkretes in der Hand, hm?« Jules riss Abigail aus ihren Gedanken und legte ihren Sohn vorsichtig von einer Brust an die andere.
»Zumindest haben sie mir nichts gesagt«, erwiderte Abigail.
Jules schwieg wieder und wartete, bis Olli fertig war. Dann sagte sie:
»Ich nehme an, jemand wird dich noch wegen der Beerdigung anrufen.«
Abigail wurde übel.
»Ja, wahrscheinlich.«
Sie streichelte den Dackel, und es gelang ihr, bei der Aussicht auf die Beerdigung nicht zu schaudern. Sie wusste, dass sie es niemals würde ertragen können, sollte man sie einladen.
26.
»Du musst gehen«, sagte Silas zwölf Tage später zu ihr, nachdem Toby Fry angerufen hatte, um Abigail mitzuteilen, dass die Beerdigung am kommenden Sonntag auf dem jüdischen Friedhof von Hertfordshire stattfinden würde.
»Ich kann nicht«, sagte Abigail.
»Ich begleite dich«, sagte Silas.
»Das geht nicht. Das wäre … obszön.« Ihr wurde wieder übel. »Wie könntest du das ertragen?«
»Ich habe Schlimmeres hinter mir«, antwortete er.
Abigail erwiderte nichts darauf und beschloss, nicht zu fragen … nicht wissen zu wollen, was dieses »Schlimmere« war.
Die vergangenen vierzehn Tage hatte sie das Gefühl gehabt, mit einem Mann zu leben, von dem sie geglaubt hatte, ihn gut zu kennen, nur um jetzt festzustellen, dass sie ihn überhaupt nicht kannte. Ihr Ehemann war ein Fremder für sie. Ein Mann, der behauptete, wegen ihr getötet zu haben, was einer der Gründe dafür war, warum sie bei der Polizei für ihn gelogen hatte – nahm sie zumindest an. Silas hatte ihr gesagt, er hätte Charlie wegen ihr getötet.
Und vermutlich war das auch einer der Gründe dafür, weshalb sie ihn nicht verließ.
Diese drei Worte, die sich immer wieder in ihrem Kopf wiederholten:
Alles meine Schuld.
Sie sah keine Polizei auf der Beerdigung: weder Detective Lowe noch dessen Partner oder sonst jemanden, der nicht zu den Trauergästen zu gehören schien. Dennoch empfand Abigail die Trauerfeier als schrecklich. Zuerst war da die Versammlung der Trauergäste vor der Kapelle, dann die Gebete – einige auf Englisch, andere auf Hebräisch –, die Totenrede und schließlich das Kaddish, das alle mit kleinen schwarzen Gebetbüchern in der Hand gemeinsam sprachen.
Wenigstens war sie in der Kapelle eine Zeit lang von Silas getrennt, der bei den Männern auf der anderen Seite stand. Hätte ihr noch vor ein paar Wochen jemand gesagt, dass sie einst froh sein würde, von ihm getrennt zu sein – Abigail hätte es nicht geglaubt.
»Alles in Ordnung?«, fragte Silas, als sie sich draußen wieder trafen und den langen Weg zum Grab antraten.
Abigail antwortete ihm nicht, schaute ihn auch nicht an. Sie fragte sich nur, wie sie es ertragen sollte, neben ihm zu stehen, wenn man nun Charlies Sarg in die Erde hinabließ. Und sie hatte Recht gehabt: Es war eine Obszönität, und sie war genauso sehr schuld daran wie Silas.
Gegrüßet seiest du Maria, voll der Gnaden. Der Herr ist mit dir …
Sie schloss die Augen, als die Trauergäste Erde auf den Sarg warfen, und in Gedanken kehrte sie wieder zur Beisetzung ihrer Eltern zurück.
Keine Gnade für mich.
Keine Vergebung, weder jetzt noch in Ewigkeit.
»Komm«, raunte Silas ihr ins Ohr.
Abigail schlug die Augen auf und sah, dass alle wieder zur Kapelle gingen, um dort ihre Gebete fortzusetzen. Frauen und Männer wurden wieder getrennt. Abigail hörte kaum noch zu. Nur verschwommen nahm sie wahr,dass der Rabbi alle ins Haus von jemandem einlud. Heute Abend würde es noch weitere Gebete geben, verkündete er; erst dann würde endlich alles vorbei sein.
Sie entdeckte Silas fast augenblicklich in der
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