Teuflische Schwester
heruntergedrückt hatte, war Teri längst
verschwunden. Sie hatte genug gehört. Phyllis war schon
überzeugt.
Bald sollte es auch ihr Vater sein.
»Meinst du wirklich, du hältst das aus?« fragte Charles
Melissa zwanzig Minuten später. »Du mußt nicht gehen,
wenn du nicht willst. Das wird sicherlich jeder verstehen.«
Ganz kurz war Melissa versucht, sich von Jeffs
Beerdigung fernzuhalten. Gerade als sie den Kopf
schütteln wollte, fiel ihr die Warnung ihrer Mutter wieder
ein:
»Du wirst zur Beerdigung gehen und dich anständig
benehmen. Alles andere wäre ein Eingeständnis deiner
Schuld. Es ist auch so schlimm genug, daß alle dich für
verrückt halten. Wenn sie glauben, daß du es absichtlich
getan hast, wird sich keiner von uns mehr in der
Öffentlichkeit zeigen können.«
Da Phyllis ihr auch noch hinter Charles’ Rücken einen
finsteren Blick zuwarf, schluckte Melissa das Nein, das ihr
schon auf der Zunge gelegen hatte, hinunter und brachte
ein Nicken zuwege. »Ich will gehen«, flüsterte sie. »I-ich
habe Jeff immer gemocht.«
Eine Stunde später saß sie in der kleinen
Gemeindekirche und wünschte sich, sie wäre doch zu
Hause geblieben.
Von dem Augenblick an, als sie an der Seite ihres Vaters
eingetreten war, hatte sie das Gefühl gehabt, jeder starre
sie in stummer Anklage an.
Sie hatte versucht, nicht darauf zu achten, hatte sich still
zwischen ihrem Vater und Teri auf die Bank gesetzt und
den Blick nicht vom Gebetbuch gehoben, das der
Meßdiener ihnen beim Eintreten in die Hand gedrückt
hatte. Doch jetzt, da der Pfarrer die Predigt abschloß und
das letzte Gebet sprach, sah sie nervös auf die Gesichter
um sich.
Die meisten hielten den Kopf gesenkt, aber hier und da
wurde sie verstohlen gemustert.
Cyndi Miller starrte sie unverwandt an. Wenigstens
schaute sie hastig in eine andere Richtung, als Melissa den
Blick erwiderte.
Ellen Stevens dagegen sah ihr anklagend in die Augen.
Melissa hielt ihrem Blick schließlich nicht mehr stand.
Aber ich hab’ doch nichts getan! sagte sie sich zum
wiederholten Mal. Ich bin doch nur die Straße
entlanggelaufen.
Oder?
Von dem Augenblick, in dem sie die Perücke aufgesetzt
hatte, bis zum Dröhnen der Hupe konnte sie sich an nichts
erinnern.
War es am Ende D’Arcy gewesen?
Sie durfte nicht mehr daran denken. Sie durfte sich nicht
mehr damit quälen, sonst wurde sie noch verrückt.
Wenn sie es nicht schon war.
Aber sie kam sich die meiste Zeit gar nicht verrückt vor.
Plötzlich stupste Teri sie an. Sie erwachte aus ihrer
Träumerei. Die Leute strömten bereits zum Hauptportal,
wo der Sarg auf einem offenen Leichenwagen stand.
Eiskalte Panik kroch an Melissa hinunter.
Mußte sie das tun?
Mußte sie Jeff ins Gesicht schauen?
Neben ihr erhob sich ihr Vater. Benommen tat sie es ihm
gleich.
Ich werde nicht hinschauen, nahm sie sich vor. Ich
werde hingehen, aber vor dem Sarg werde ich die Augen
zumachen.
Hinter ihrem Vater trat sie in den Mittelgang. Schon
wieder packte sie Panik, denn hinter ihr drängten noch
mehr Leute nach. Sie sah sich verstohlen um, suchte einen
Fluchtweg, aber die Seitenportale waren alle geschlossen.
Außerdem erschien ihr schon der Gedanke vollkommen
unerträglich, allein durch eine leere Bankreihe zum
Seitenschiff zu rasen.
Dann stand sie vor dem Portal und konnte die Leute leise
seufzen und ein Abschiedswort vor dem Sarg murmeln
hören.
Im nächsten Augenblick stand sie davor.
Anstatt die Augen zu schließen, wie sie sich heimlich
geschworen hatte, schaute sie hinab auf Jeff Barnstables
Gesicht.
Er sah ganz und gar nicht tot aus.
Mit geschlossenen Augen und einem friedlichen
Ausdruck auf dem Gesicht lag er da, als schliefe er.
Instinktiv streichelte sie ihm das Gesicht.
Das Fleisch war fest und kalt, wie Marmor.
Sie schnappte nach Luft. Die Panik, die sich in ihr
aufgestaut hatte, brach hervor. »Neeeiiin!« stöhnte sie.
»Ich wollte doch nicht …«
Tränen stürzten ihr aus den Augen, und sie verbarg das
Gesicht in den Händen. Sofort legte ihr Vater schützend
den Arm um sie und führte sie eilig durch die Menge.
Alle starrten sie an.
Starrten sie an und tuschelten miteinander.
Sie konnte die Vorwürfe fast hören.
»Nein!« kreischte sie. »Ich hab’s nicht getan. Es war
D’Arcy! D’Arcy hat’s getan!«
Im nächsten Augenblick stand sie im Freien, in der
grellen Nachmittagssonne. Sie blinzelte zu ihrem Vater
hinauf. Er sah sie mit liebevollen Augen an und streichelte
ihr sanft das Haar.
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