Teuflische Schwester
Hinter ihm erblickte sie ihre Mutter.
Phyllis sagte zwar kein Wort, doch Melissa erschauerte
vor der gräßlichen Wut, die allein von den engen
Schlitzen, die einmal Augen gewesen waren, ausging. In
ihrer Angst vor dieser stummen Wut bemerkte Melissa das
verhalten triumphierende Lächeln auf Teris Gesicht nicht.
Während ihr Vater sie behutsam zum Wagen steuerte,
schwappte die Hoffnungslosigkeit wie eine Welle über ihr
zusammen.
Ich hab’s wieder verpatzt, dachte sie. Und diesmal
vergibt sie mir nicht mehr.
23
»Ich verstehe einfach nicht, wie sie so etwas tun konnte«,
klagte Phyllis.
Seit einer Stunde waren sie wieder zu Hause. Charles
hatte sofort Dr. Andrews angerufen und war danach in die
Apotheke geeilt, um Melissa ein Beruhigungsmittel zu
besorgen. Danach hatte er bei Melissa am Bett gesessen
und sie nicht eher verlassen, bis das Medikament Wirkung
zeigte und sie in Schlaf sank. Unten lief Phyllis rastlos im
Wohnzimmer auf und ab. Sie kochte noch immer vor Wut.
Teri, die das Beerdigungskleid noch nicht abgelegt hatte,
hockte nervös auf einem Stuhl.
»Wie konnte sie mir das nur antun?« jammerte Phyllis
zum wiederholten Mal.
»Na ja, das überrascht mich kein bißchen«, meinte
Charles. »Mich wundert ehrlich gesagt, daß sie überhaupt
gegangen ist, so wie sie sich gefühlt hat.«
»Sie ist gegangen«, warf Phyllis ein, »weil ihr klar war,
daß es das Beste für sie war. Und es wäre auch in Ordnung
gewesen, wenn sie sich unter Kontrolle gehabt hätte. Aber
daß sie eine solche Szene machen mußte …«
Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. Dann warf sie einen
Blick auf die Uhr, seufzte schwer und schien sich einen
Ruck zu geben. »Die Predigt am Grab dürfte jetzt vorbei
sein. Wir sollten lieber hingehen und …«
»Wohin willst du gehen?« Charles starrte seine Frau
fassungslos an. »Du schlägst doch nicht im Ernst vor, daß
wir jetzt noch zum Leichenschmaus gehen?«
Phyllis hielt seinem Blick nur kurz stand. »Natürlich
gehen wir hin. Und ein Streit mit dir wäre das letzte, was
ich jetzt brauchen könnte. Was bleibt uns anderes übrig?
So wie Melissa sich heute aufgeführt hat, müssen wir uns
zumindest entschuldigen. Ist dir Paulas Gesichtausdruck
denn nicht aufgefallen?«
»Ich schere mich einen Dreck um Paula Barnstable und
den ganzen Rest. Mir geht es jetzt nur um meine Tochter.
Wenn du glaubst, daß ich sie ausgerechnet jetzt allein
lasse …«
»Du läßt sie ja nicht allein«, unterbrach ihn Phyllis.
»Teri bleibt bei ihr.«
Charles’ Blick fiel auf Teri. Sie lächelte ihn
verständnisvoll an. »Ich finde, daß Phyllis recht hat«,
meinte sie.
»Mir ist auch aufgefallen, wie komisch einige Leute
Melissa angesehen haben. Machen wir nicht alles nur noch
schlimmer, wenn jetzt keiner zum Leichenschmaus geht?«
»Abgesehen davon, daß Melissa die Nerven verloren hat,
ist ja nichts passiert«, brummte Charles. Dann fiel ihm auf,
wie Phyllis und Teri verstohlene Blicke wechselten. Er
runzelte die Stirn. »Gibt es etwas, wovon ich nichts
weiß?«
Teri rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl, als wollte sie
ihm lieber etwas verschweigen. »Ich … na ja, die meisten
Kids reden nun mal über Melissa«, antwortete sie
schließlich. Geflissentlich wich sie dabei seinem Blick
aus. »Sie … wie soll ich sagen? Einige halten sie für ein
bißchen …« Sie zögerte, als suche sie nach dem richtigen
Ausdruck. »… na ja, sie halten sie für etwas sonderbar.«
»Du meinst, sie halten sie für verrückt. Ich weiß doch,
wie Kinder sind. Ich war selber mal eins.«
»Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete Teri hastig.
»Ich … ich finde nur, daß Phyllis recht hat. Wäre es
nicht besser, ihr würdet hingehen und den Leuten sagen,
daß es Melissa zuviel wurde, aber daß sie sich jetzt wieder
wohl fühlt? Ich meine, wenn keiner von uns hingeht,
machen wir es für Melissa nur noch schlimmer. Die Leute
werden glauben, wir hätten Angst, sie allein zu lassen.«
In Charles regte sich noch immer Widerspruch, doch er
ließ es bleiben. Teri hatte ja recht. Im Grunde genommen
war Melissa nur in Tränen ausgebrochen, mehr nicht. Mit
einer Überreaktion würde er alles nur noch schlimmer
machen. Ja, er hörte die Kinder schon über sie lästern:
»Sie mußten sie heimbringen und einsperren. Sie war so
hysterisch, daß alle daheimbleiben mußten.«
»Ich wußte ja, daß sie nicht ganz dicht ist, aber bei der
Beerdigung ist sie vollkommen übergeschnappt. Sie
mußten sie
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