Teuflische Schwester
haben, vollendete Cora ihre Runde
um das Haus. Sie wollte gerade wieder hineingehen, da
nahm sie beim Swimmingpool eine flüchtige Bewegung
wahr. Das grelle Außenlicht raubte ihr aber die Sicht, also
schaltete sie es aus. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit
gewöhnt hatten, erkannte sie eine Gestalt vor dem
Hintergrund des dunklen Pools.
Eine weiß gekleidete Gestalt, die sich langsam auf die
Hintertür des Herrenhauses zu bewegte.
Cora unterdrückte einen Aufschrei. Unwillkürlich fielen
ihr sämtliche Geschichten über D’Arcy ein. Gleich
schaltete sich aber wieder ihr Verstand ein und damit die
Gewißheit, die Gestalt zu kennen.
Sie schaltete das Licht lieber nicht mehr ein. In der
Dunkelheit schritt sie schnell über den Rasen. Je näher die
Gestalt kam, desto langsamer wurden ihre Schritte. Sie
konnte sie jetzt deutlich sehen und nickte bedächtig. Sie
hatte sich nicht getäuscht.
Es war Melissa, die mit weit aufgerissenen Augen und
schlaff herabhängenden Armen auf das Haus zuging.
Sie ging auf das Haus zu, schlief aber tief.
Cora rekapitulierte die Verhaltensregeln, die sie erhalten
hatte, als Melissa mit dem Schlafwandeln angefangen
hatte.
»Der Doktor sagt, daß man sie auf keinen Fall
erschrecken darf«, hatte Charles ihr erklärt.
»Wahrscheinlich wird es ja nicht passieren, aber wenn es
wirklich einmal der Fall sein sollte, weck sie nicht auf. Sie
wacht vielleicht von selbst auf, und dann solltest du ihr
ganz ruhig erklären, was los war und sie ins Bett bringen.
Vielleicht geht sie auch ins Bett zurück, ohne überhaupt
aufzuwachen. Sprich ganz sanft zu ihr und versuche, sie
behutsam in ihr Zimmer zu führen.«
Cora holte tief Luft. Dann nahm sie Melissa sanft am
Arm. »Es ist alles gut, mein Schatz«, flüsterte sie. »Ich
bin’s nur, Cora. Ich bring’ dich ins Bett zurück.«
Sie paßte ihre Schritte Melissas langsamem Tempo an.
Behutsam hielt sie Melissa fest, als sie vor der Hintertür
den Schlüssel aus der Schürzentasche fischen mußte.
Drinnen hatte sie die Hand schon am Lichtschalter, zuckte
aber rechtzeitig zurück. Das grelle Licht hätte das
Mädchen garantiert erschreckt.
Mit dem Haus war sie so vertraut, daß sie Melissa auch
bei Dunkelheit sicher durch die Küche und den
Anrichteraum brachte.
»So ist es recht«, raunte sie. »Jetzt noch durch das
Eßzimmer, und dann die Treppe hoch.«
Sie umgingen geschickt den großen Tisch, brachten die
Vorhalle hinter sich und erklommen die Stufen. Am
Treppenabsatz im ersten Stock blieb Melissa kurz stehen.
Als sie sich wieder in Bewegung setzte, ging sie nicht zu
ihrem Zimmer, sondern schlug die entgegengesetzte
Richtung ein. Cora runzelte verwirrt die Stirn. Dann
begriff sie.
Der Speicher.
Wie so oft Zog es Melissa zum winzigen Zimmer unter
den Dachsparren.
»Nein, mein Liebling«, flüsterte Cora. »Heute nacht
nicht.«
Sie stellte sich eilig Melissa in den Weg. Das Mädchen
blieb stehen und starrte sie aus leeren Augen an. Ein
verwirrter Ausdruck machte sich auf ihrem Gesicht breit,
als Cora sie sachte herumdrehte.
»Es ist alles gut, mein Schatz«, versicherte sie ihr noch
einmal. »Du bist in Sicherheit. Jetzt kann dir nichts mehr
passieren.«
Melissas Lippen bewegten sich. Cora ahnte die Worte
mehr, als daß sie sie hörte, so leise kamen sie:
»Alles gut?«
»Ja«, flüsterte Cora. »Alles ist gut. Deine Mutter ist in
ihrem Zimmer und schläft wie ein Stein. Niemand weiß,
was los war.«
Ein Seufzer drang über Melissas Lippen, und ihre Augen
fielen zu. Erst blieb sie ruhig stehen, dann plötzlich gaben
ihre Knie nach, und sie sackte zusammen. Augenblicklich
riß sie die Augen auf. Im matten Licht der Lampe erkannte
Cora die Panik in ihren Augen.
»C-Cora?« stammelte Melissa. Ihr Blick flatterte über
den Flur wie der eines gehetzten Tiers. Sie wußte im
ersten Augenblick nicht, wo sie war, doch sogleich schlug
die Erinnerung in ihr hoch. Da war doch etwas im
Schuppen gewesen. Sie hatte auf ein Loch im Boden
hinuntergeschaut und …
Jetzt kam es ihr wieder. Sie unterdrückte ein Schluchzen.
Aber was war seitdem geschehen? Warum war sie im
Flur?
Warum war Cora bei ihr?
Wie war sie hierhergekommen?
Wortlos starrte sie zu Cora hinauf.
»Es ist alles gut mein Schatz«, beschwichtigte Cora sie
und half ihr auf die Beine. Die alte Haushälterin überlegte
fieberhaft. Melissas panische Angst war nicht zu
übersehen. Warum hatte sie nicht eine Minute länger
schlafen können. Dann wäre sie
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