Teuflische Schwester
ist, oder das
Durcheinander hier bewußt wahrnimmt. Darum sah ich
keinen Sinn darin, sie auf der Stelle abtransportieren zu
lassen.«
Andrews nickte. Er war bereits auf dem Weg zur
Bibliothek. Lenore lief neben ihm her. »Was ist mit
Charles?« wollte er wissen. »Ist er benachrichtigt
worden?«
»Er ist auf dem Weg hierher. Ich habe ihn gleich als
ersten angerufen. Er hat das nächste Flugzeug genommen.
Vorhin hat er vom Flughafen in Portland angerufen. Er
wird bald hiersein.«
»Und Phyllis?« Andrews blieb vor der Tür zur
Bibliothek stehen und wandte sich zu Lenore um.
Für einen kurzen Augenblick glaubte er, ihre Augen
hätten sich überschattet, aber sofort wich dieser Ausdruck
wieder, und sie schüttelte den Kopf. »Sie ist natürlich sehr
aufgeregt«, erklärte sie. »Aber ich habe das Gefühl, das
hat nichts mit den Ereignissen hier zu tun. Sie … Na ja, sie
fragt unaufhörlich, was die Leute jetzt wohl sagen
werden.« Eisige Verachtung klang aus ihrer Stimme. »Ich
fürchte, ihre Hauptsorge gilt ihrem Ruf in der Gesellschaft
hier. Aber ich war schon seit jeher der Meinung, daß sie
sich noch nie um Melissa oder überhaupt um andere
Menschen gekümmert hat.«
»Sie mögen sie nicht besonders, nicht wahr?«
»Ich habe sie nie gemocht. Ich bin höflich zu ihr, weil
ich mit Charles zusammen aufgewachsen bin und weil er
mir leid tut. Melissa tut mir auch leid.« Sie tat einen
schweren Seufzer. »Vielleicht … vielleicht hätten wir alle
mehr für sie tun sollen. Wir wußten ja, unter welch großen
Druck Phyllis sie ständig setzte …«
»Wir wollen jetzt lieber von Schuldzuweisungen
absehen«, warf Andrews ein. »Erst sollten wir
herausfinden, was eigentlich geschehen ist.«
»Aber das wissen wir doch. Allem Anschein nach hat
Melissa gestanden.«
»Haben Sie nicht gerade gesagt, Melissa nehme nicht
bewußt wahr, was um sie herum geschieht?«
Den Bruchteil einer Sekunde schien Lenores Fassade
einen Riß zu bekommen, doch sie erlangte ihre
Selbstbeherrschung sofort wieder. »Sie haben natürlich
recht«, sagte sie. »Kann ich etwas für Sie tun?«
Andrews schüttelte den Kopf. »Ich schaue mir erst
einmal Melissa an.«
Lenore Van Arsdale blieb einen Augenblick neben ihm
stehen, fast als wollte sie mit in die Bibliothek gehen.
Schließlich wandte sie sich doch ab. Andrews trat ein und
zog die Tür hinter sich zu.
Melissa trug immer noch das blutverschmierte Kleid. Sie
saß still auf der Sofakante. Ihr Blick war starr auf den
Kamin gerichtet, die Hände lagen sittsam
übreinandergefaltet auf dem Schoß. Fritz Chandler, ein
etwas übergewichtiger Mittfünfziger mit silbergrauem
Haar, erhob sich.
»Burt«, begrüßte er seinen Kollegen mit automatisch
gesenkter Stimme, wie es von den Visiten im
Krankenhaus her seine Gewohnheit war. »Wie schön, dich
wiederzusehen. Ich habe ja einige Merkwürdigkeiten in
meinem Leben gesehen, aber so etwas …« Hilflos
schüttelte er den Kopf.
»Hast du ihr etwas gegeben?« fragte Andrews.
»Nichts. Ich habe sie gründlich untersucht, Burt, aber ich
verstehe das einfach nicht. Wenn man ihr in die Augen
sieht, kann man vielleicht feststellen, daß sie unter Schock
steht. Aber sonst lassen sich absolut keine Symptome
feststellen. Puls, Blut, Blutdruck, Reflexe – alles ist
vollkommen normal. Aber sie hat kein Wort gesagt. Sie
war noch draußen, als ich kam. Stand vor diesem
verdammten Schuppen, als würde sie auf den Bus warten.
Mein Gott …« Sein Blick, der die ganze Zeit auf Melissa
geruht hatte, wanderte zu Andrews. »Bist du schon dort
gewesen?« Andrews schüttelte den Kopf. »Eins laß dir
gesagt sein, da ist die Hölle los. Dort liegt nicht nur der
kleine Peterson mit gespaltenem Schädel, dort ist auch
noch ein Hundekadaver, der seit schätzungsweise einer
Woche vor sich hinfault. Und sie stand einfach daneben,
als würde sie nicht das geringste mitbekommen.«
Andrews betrachtete nun seinerseits Melissa. »Wie habt
ihr sie hierhergebracht?« wollte er wissen. »Irgendwelche
Probleme?«
Ȇberhaupt keine. Ich habe ihr keine Anweisungen zu
geben brauchen. Sie versteht, was ich sage, aber selbst
sagt sie nichts.«
»Gut, schauen wir sie uns mal gemeinsam an.«
Er kniete sich vor Melissa nieder. Falls sie ihn sah, so
gab sie es nicht zu erkennen. Ihr Blick blieb weiter starr
auf den Kamin gerichtet, das Gesicht war ausdruckslos.
»Melissa?« sagte Andrews. »Melissa, ich bin’s, Doktor
Andrews. Hörst du
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