Teuflische Schwester
wieder zerreißen.
Doch dann schleuderte Phyllis das Kleid auf das Bett.
»Aber ich dachte, D’Arcy gibt es nicht mehr«, rief sie.
Ihre Stimme wurde jetzt lauter.
Melissa drückte sich immer enger gegen die Wand. Sie
brachte ein mühsames Kopfschütteln zuwege.
Phyllis trat dicht an sie heran. Sie packte Melissa so fest
an den Schultern, daß ihre Finger sich tief in ihr Fleisch
gruben und das Mädchen glaubte, vor Schmerz aufheulen
zu müssen. Als Phyllis wieder den Mund zum Sprechen
aufmachte, kam ein wütendes Zischen heraus. »Melissa,
wir haben darüber oft genug gesprochen. Du hast dir
D’Arcy nur eingebildet! D’Arcy gibt es nicht. Verstehst
du das?«
Melissa nickte stumm. Die panische Angst raubte ihr die
Sprache.
»Du bist jetzt dreizehn Jahre alt, Melissa«, fuhr Phyllis
fort, ohne den Griff um Melissas Schultern zu lockern. »In
dem Alter erfindet man keine Gestalten mehr, die es nicht
gibt. Und du bist alt genug, selbst die Verantwortung zu
übernehmen für das, was du getan hast. Verstehst du, was
ich sage?«
Erneut brachte Melissa nur ein schwaches Nicken
zuwege.
»Also, warum bist du letzte Nacht wieder
schlafgewandelt?«
Wieder versuchte Melissa vergeblich, sich zu erinnern.
Sie wollte ihrer Mutter die Wahrheit sagen, daß D’Arcy
ihr gestern nacht geholfen hatte, daß sie anscheinend mit
ihr auf den Speicher gegangen war und sie dort
eingeschlafen sein mußte, während D’Arcy das Kleid
genäht hatte. Aber sie wußte es nicht genau. Sie konnte
nur mit Bestimmtheit sagen, daß D’Arcy gekommen war.
Der Rest war Leere, bis Cora sie heute morgen geweckt
hatte. Endlich fiel ihr ein, was ihre Mutter hören wollte:
»Ich … ich war gestern zu aufgeregt. Und wenn ich mich
aufrege, muß ich immer im Schlaf aufstehen.«
Ihre Mutter lockerte den Griff um ihre Schultern. Der
stechende Schmerz ging in ein anhaltendes Brennen über.
»Und was hat dich gestern so aufgeregt?« setzte Phyllis
nach.
Melissa drückte die Augen fest zu. Hoffentlich fand sie
jetzt die richtige Antwort. »Weil ich mich so schlecht
benommen habe. Es war eine sehr schöne Party, und ich
habe allen den Spaß verdorben. Ich war schuld, Mama.«
Endlich nahm Phyllis die Hände von Melissas Schultern.
Ihre Züge entspannten sich und sie lächelte sogar.
»Das stimmt«, meinte sie. »An allem, was gestern
geschehen ist, bist du schuld. Nur aus schlechtem
Gewissen bist du wieder schlafgewandelt.«
Melissa nickte benommen. »Bist du mir jetzt noch
böse?« fragte sie schüchtern und sah flehentlich zu ihrer
Mutter auf.
Phyllis’ Lächeln erstarrte. Ein kalter Ausdruck schlich
sich in ihre Augen. In Melissa flackerte die Panik wieder
auf.
»Das sehen wir noch«, meinte Phyllis. »Das hängt ganz
von deinem Benehmen heute ab.«
Kurz nach zwölf Uhr parkte Phyllis ihren Mercedes vor
dem Cove Club. Noch einmal begutachtete sie ihr Haar
und Make-up im Spiegel. Eine hellblonde Strähne war
dem strengen französischen Chignon am Hinterkopf
entkommen. Sie schob sie sorgfältig unter den Knoten und
trug noch etwas Lippenstift auf. Dann erst stieg sie aus,
nahm den ehrerbietigen Gruß des Hausdieners mit einem
kurzen Nicken zur Kenntnis und schritt zum Club. Bevor
sie ins Foyer trat, blieb sie, einer Gewohnheit folgend, ein
paar Sekunden stehen, um durch die malerische
Fensterfront den Blick auf den Atlantik zu genießen. Fast
nervös blickte sie sich um. Es war doch immer das
gleiche, schalt sie sich. Warum fiel sie nach immerhin
dreizehn Jahren immer noch einer Scheu zum Opfer, als
gehörte sie nicht hierher? Ein Blick auf eine der von unten
bis oben verspiegelten Säulen, die das Dach trugen,
bestätigte ihr, daß das smaragdgrüne Kostüm perfekt saß.
Es war aus reiner Seide. Darunter trug sie eine
cremefarbene Bluse. Ihre modische Strumpfhose mit dem
schicken Muster hatte nirgends Falten, und die Schuhe
waren zwar etwas unbequem, dafür paßten sie vorzüglich
zum Kostüm.
Phyllis lächelte dem herbeieilenden Ober freundlich und
doch kühl genug zu, daß die Distanz gewahrt blieb.
»Hoffentlich bin ich nicht die erste. Ich hasse es, allein
zu sitzen.«
»Ganz und gar nicht«, erwiderte André steif. »Die
anderen Damen haben bereits bestellt.« Er schritt voran in
den Speisesaal, wo am anderen Ende die restlichen drei
Mitglieder des Wohltätigkeitskomitees an dem ständig für
Lenore Van Arsdale reservierten Tisch saßen.
Plötzlich gefror ihr das Blut in den Adern.
Lenore und die anderen
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