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The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)

The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)

Titel: The Bone Season - Die Träumerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samantha Shannon
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sich mit gebeugten Köpfen und verschränkten Händen aneinander, um der Kälte zu entgehen. Cyril und Julian waren auch da. Der Regen tropfte durch die Stofffetzen, mit denen sie die Lücken zwischen den Budenbrettern abgedichtet hatten.
    Liss war schon zu lange in der Bewusstseinsstarre gefangen, um sich von allein zu erholen. Sie konnten nichts anderes tun, als still an ihrem Bett zu wachen. Falls sie überlebte, würde nur noch eine amaurotische Hülle von ihr übrig bleiben. Und falls sie starb, würde einer von ihnen die Threnodie sprechen, um sie so weit zu bannen, dass sie ihren Unterdrückern entkommen konnte. Egal was kam, sie würden eine ihrer liebsten Akrobatinnen verlieren – Liss Rymore, das Mädchen, das niemals stürzte.
    Als der Wächter mit Michael und mir an seiner Seite erschien, wichen sie geschlossen zurück. Ängstliches Flüstern breitete sich aus. Cyril drückte sich mit wildem Blick in eine Ecke. Die anderen gafften nur. Was wollte der Blutsgefährte hier, Nashiras rechte Hand? Warum würde er eine Totenwache stören?
    Nur Julian rührte sich nicht vom Fleck.
    »Paige?«
    Ich drückte einen Finger an die Lippen.
    Liss lag auf ihrem Lager, nur mit einigen schmutzigen Laken zugedeckt. Sie hatten ihr kleine Seidenstreifen in die Haare geflochten, Talismane für Glück und Hoffnung. Julian packte ihre Hand, ließ den Eindringling aber nicht aus den Augen.
    Der Wächter kniete neben Liss nieder. Sein Kiefer verkrampfte sich, doch ansonsten ließ er sich seine Schmerzen nicht anmerken.
    »Gib mir das Amarant, Paige.«
    Ich reichte ihm das Fläschchen. Das letzte Fläschchen. Seine letzte Dosis.
    »Und die Karten«, bat der Wächter, schon ganz auf seine Aufgabe konzentriert. Auch die gab ich ihm. »Und das Messer.«
    Michael streckte mir ein Messer mit schwarzem Griff entgegen, das ich vorsichtig aus der Scheide zog und an den Wächter weiterreichte. Das Flüstern ringsum verstärkte sich. Julian hielt Liss’ kalte Hand in seinem Schoß und sah mich durchdringend an. »Vertrau mir«, bat ich ihn leise.
    Er schluckte schwer.
    Der Wächter entkorkte die Phiole. Dann ließ er ein paar Tropfen auf seinen lederbedeckten Finger fallen und tupfte das Öl auf Liss’ Mund und in ihr Oberlippengrübchen. Julian umklammerte weiter ihre Hand, auch wenn die eisigen Finger keine Reaktion zeigten. Der Wächter setzte die Amarantbehandlung an ihren Schläfen fort, verschloss das Fläschchen wieder und gab es mir zurück. Anschließend nahm er das Messer und streckte es Julian hin.
    »Stich ihr in die Finger.«
    »Was?«
    »Ich benötige ihr Blut.«
    Fragend sah Julian mich an. Als ich nickte, griff er mit ruhiger Hand nach der Klinge. »Tut mir leid, Liss«, flüsterte er.
    Dann drückte er die Messerspitze einmal gegen jede ihrer Fingerspitzen. Winzige Blutstropfen quollen hervor. Der Wächter nickte.
    »Paige, Michael: Breitet die Karten aus.«
    Gemeinsam machten wir uns ans Werk und fächerten den Satz halbkreisförmig auf. Der Wächter nahm Liss’ Hand und zog ihre Finger über die Karten, zeichnete die Bilder mit einer feinen Blutspur.
    Mit einem Lappen säuberte der Wächter das Messer, zog seinen linken Handschuh aus und schloss seine Faust um die Klinge. Ein Raunen ging durch die Gruppe. Rephs legten niemals ihre Handschuhe ab. Hatten sie überhaupt Hände? Ja, hatten sie. Seine war groß und hatte Narben an den Knöcheln. Ein zweites Raunen ertönte, als er die scharfe Klinge so fest durch seine Haut zog, dass sich seine Handfläche öffnete.
    Flüssigkeit sickerte aus der Wunde und meine Wahrnehmung trübte sich. Er streckte den Arm aus und ließ auf jede Karte ein paar Tropfen Ektoplasma fallen. Genau wie Aphrodite, als sie den Nektar auf das Blut des Adonis geträufelt hatte. Ich konnte spüren, wie die Geister im Raum sich sammelten, angezogen von den Karten, Liss und dem Wächter. Sie bildeten ein Dreieck, einen Graben im Æther. Er öffnete die Tür.
    Der Wächter zog seinen Handschuh wieder an, sammelte die Karten ein und schob sie zu einem Stapel zusammen. Er legte ihn Liss auf die nackte Brust, sodass sie Hautkontakt hatten, und faltete ihre Hände darüber.
    »Und aus dem Blut des Adonis«, sagte er, »entsprang Leben.«
    Liss schlug die Augen auf.

Kapitel Siebenundzwanzig
    D AS J UBILÄUM
    1. September 2059. Zweihundert Jahre waren vergangen, seit seltsame Lichter wie ein Sturm über den Himmel gezogen waren. Zweihundert Jahre, seit Lord Palmerston seinen Pakt mit den Rephaim geschlossen

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