The Cutting
Er durchquerte das Foyer und stand dann vor zwei massiven Schiebetüren, die jeweils etliche Zentner wiegen mussten und hinter denen sich, so nahm er an, das Wohnzimmer verbarg. Er gab einer der beiden einen sanften Schubs. Die wunderbar ausbalancierte Schiebetür verschwand leise und ohne zu ruckeln in der Wand und gab den Blick auf ein weiteres leeres Zimmer frei.
Eine offene Flasche Tanqueray stand auf einem Silbertablett auf einer Anrichte aus Walnussholz. Das war, so nahm er an, die Quelle von Hattie Spencers Morgentrunk. Auf der gegenüberliegenden Seite blickte man durch zwei große Panoramafenster in den Vorgarten. Er dachte an Hatties schlanke Gestalt, die im hinteren der beiden Fenster gestanden und beobachtet hatte, wie er das Grundstück verließ. Das war erst wenige Tage her.
Da streifte etwas Weiches sein Bein. Eine kleine schwarz-weiße Katze blickte schnurrend zu ihm auf und kroch dann in den schützenden Spalt zwischen Boden und einem Polstersessel. Von dort aus beobachtete sie McCabe. McCabe starrte zurück. Das Tier beschloss, ihn zu ignorieren, und fing an, sich seine eigentlich weißen Pfoten zu lecken, die momentan allerdings mit dunkelroten Flecken übersät waren.
Die Katzenpfotenspur führte hinaus ins Foyer und zu der breiten Treppe, die in anmutigem Schwung hinauf in den ersten Stock führte. McCabe hätte die Abdrücke auf dem dunklen Holz wahrscheinlich gar nicht bemerkt, wenn er nicht bewusst darauf geachtet hätte. Oben angekommen berührte er einen mit dem Finger. Noch feucht. Die Spur führte zu einem Zimmer am Ende des Flurs, dessen Tür gerade so weit offen stand, dass eine kleine Katze hindurchschlüpfen konnte. McCabe ging den Flur hinunter und schob die Tür vorsichtig mit einem Fuß auf. Stille. Er betrat das Zimmer und blickte sich um, schwenkte die Fünfundvierziger erst nach links und dann nach rechts. Auf einem schmalen Himmelbett lagen zerknüllte Laken, und dunkelrote Blutflecken bildeten einen lebhaften Kontrast zu dem weißen Spitzenbaldachin. Hinter dem Bett entdeckte McCabe eine bereits leicht zähflüssige Lache, die sich immer noch auf dem nicht ganz waagerechten Fußboden ausbreitete. Er schluckte und ging um das Fußende herum auf die andere Bettseite.
Vor ihm lag Philip Spencers Leichnam, nackt und auf dem Rücken. Seine blasierte Arroganz war verschwunden, sein einst so attraktives Gesicht schmerzverzerrt. Ein umgekippter Stuhl deutete auf einen letzten Kampf hin. Er hatte ein halbes Dutzend Messerstiche abbekommen. Dort, wo seine Beine sich trafen, war nur noch eine einzige offene Wunde zu sehen. An der Wand über dem Bett stand eine Zeile der englischen Dichterin Elizabeth Barrett Browning, geschrieben mit Spencers Blut.
Wie ich dich liebe? Lass mich zählen die Weisen.
McCabe zählte die Weisen, und dann zählte er noch einmal. Jedes Mal ergab sich nur eine einzige sinnvolle Lösung, und jedes Mal lautete sie: Lucas Kane.
47
Freitag, 12.30 Uhr
McCabes Blick jagte zwischen Spencers Leiche und den blutigen Buchstaben an der Wand hin und her. Vor seinem inneren Auge sah er Lucas Kane in triumphierender Pose auf dem Gipfel des Mount McKinley stehen. Lucas Kane. Spencers Liebhaber. Spencers Verräter. Spencers Mörder. Wie ich dich liebe?, hatte Kane gefragt. Und die einzig ehrliche Antwort war die, die Elizabeth Browning gegeben hatte. Ich liebe dich so tief, so hoch, so weit, als meine Seele reicht. Immer vorausgesetzt, dass Kanes Seele tatsächlich, wie Melody Bollinger gesagt hatte, hemmungslos und unersättlich war, dass Sex tatsächlich fast jede von Lucas Kanes Handlungen bestimmt hatte. McCabe war überzeugt, dass Melody Bollinger diesbezüglich Recht hatte. Er war sich ebenso sicher, dass sie mit ihrem Verdacht, Kane könnte noch am Leben sein, richtig gelegen hatte – und tief in seinem Inneren, an einem Ort, dessen Existenz er sich nur sehr vage bewusst war, wusste er, dass er genau das ändern musste.
Er hörte Schritte draußen im Flur. Maggies schlaksige Gestalt erschien in der Tür. Sie entdeckte die blutigen Laken auf dem Bett. Er hob die Hand zum Zeichen, dass sie stehen bleiben sollte. Sie ignorierte ihn, ging weiter und blickte nach unten. Sie machte die Augen zu, machte sie wieder auf, blickte sich um, ging ins Badezimmer, beugte sich über Harriet Spencers schickes französisches Bidet und erbrach sich.
»Tschuldigung«, sagte sie.
»Kein Problem.«
McCabe nahm sein Handy und wählte Tascos Nummer. Als es gerade angefangen
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