The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder
Sie tastete behutsam nach der Crêpe, aber Pearl hielt ihre Hand zurück.
»Es ist sehr zerbrechlich«, sagte sie. »Fass es nicht an. Und versuch, nicht zu lächeln, sonst verzieht es sich um deinen Mund.«
»Es ist unglaublich«, sagte Gaia und sah im Spiegel, dass ihre linke Wange eigenartig aussah, wenn sie sprach. Sie würde auch das Sprechen so weit wie möglich vermeiden müssen.
»Nun«, sagte Pearl mit einem bescheidenen Räuspern. »Ich glaube, es war eine gute Idee, dich ein wenig dunkler zu machen. Und jetzt setz deinen Hut auf. Yvonne, ist das Seil fertig?«
Pearl ließ Gaia ihre Jacke noch einmal ausziehen und stopfte ihr das Seil und einen ihrer Umhänge für Gaias Mutter hinten in ihr Hemd. Als Gaia ihre braune Jacke wieder anhatte, sah sie noch mehr wie ein dicklicher kleiner Junge aus, der auf den nächsten Wachstumsschub wartete. Pearl schüttelte den Kopf. »Deine Hände passen einfach nicht«, sagte sie. »Viel zu schlank.«
In diesem Moment rief Mace vom Eingang herein. »Pearl! Wir brechen zum Markt auf. Wo steckt mein Lehrling?«
Gaias Herz blieb einen Augenblick lang stehen vor Furcht, dann drückte Pearl ihre Hand kurz und fest. Sie zog Gaia zum Vordereingang.
»Wir werden hier auf dich warten«, flüsterte sie. Yvonne kam, Gaia zu umarmen, aber Pearl hielt sie zurück. »Nein, bring nicht alles in Unordnung«, warnte sie. »Nimm diese hier«, sagte sie zu Gaia und drückte ihr drei kleine weiße Würfel in die Hand.
»Zucker?«, fragte Gaia verwirrt, trat nach draußen und hielt sie in der offenen Hand ins Mondlicht. Sie waren kleiner und stabiler als Zuckerwürfel. Gaia sah Pearl neugierig an.
»Das ist kein Zucker. Sie machen müde und helfen gegen Schmerzen. Sie wirken schnell und sind sehr stark, also sei vorsichtig.«
Gaia ließ sie in die rechte Hosentasche gleiten und überlegte fieberhaft, wie sie ihr nützen sollten. »Sind sie für die Gefangene im Turm? Für Schwester Khol?«
»Ja«, sagte sie. »Oder für dich, wenn … Nun, das kannst du selbst entscheiden.«
Yvonnes junges Gesicht war ein blasses Blau in der schattigen Tür. »Sie sind alles, was wir von Lila noch haben«, erklärte sie.
»Oh«, sagte Gaia leise. Unsicher, ob sie sie annehmen durfte, suchte sie in Pearls Gesicht nach einer Antwort.
»Geh«, drängte Pearl. »Wir brauchen sie nicht.«
Gaia warf Pearl und Yvonne noch einen letzten Blick zu. Yvonne winkte kurz und lächelte breit. Dann eilte Gaia wie ein verspäteter, reuiger Lehrling dem Wagen nach.
22
Die Frauen des südöstlichen Turms
Das Monument ragte drohend über dem Bastionsplatz auf, eine schwere, schwarze Präsenz vor dem frühmorgendlichen Violett des Himmels. Das Rattern der breiten Wagenräder auf dem feuchten Kopfsteinpflaster war überlaut in Gaias Ohren, ebenso wie Leons gleichmäßiger Atem, während er und Mace den Wagen zum südöstlichen Turm zogen. Das war ihr Ziel: Sie wollten der Stand sein, der dem Turm am nächsten lag, wenn Schwester Khol zufällig vorbeikam und einen Jungen brauchte; einen vertrauenswürdigen Jungen, der sich erbot, ihre Last die Stufen hochzutragen. Gaia hielt ihren Hut mit der Hand niedergedrückt und lugte unter der Krempe hervor. In ihrer Tasche spielten ihre Fingerspitzen mit den kleinen weißen Würfeln, die Pearl ihr gegeben hatte.
Vor dem großen Holztor zum südöstlichen Turm standen zwei Wachen. Gaia vermied ihren Blick. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes befand sich der vertraute Torbogen des Gefängnisses, und auch dorthin versuchte sie, nicht zu blicken. Sie hoffte, dass sie nie wieder darunter würde hindurchgehen müssen.
Es standen schon ein paar Wagen auf dem Platz, und gleichzeitig mit ihnen kamen viele Leute zum Markttag herbei: ein Gemüsehändler, ein Geflügelzüchter mit Eiern und gackernden Hühnern, der Uhrmacher, der seine Waren gelegentlich auch nach Wharfton brachte und nun einen kleinen Stand am Fuße des Obelisken errichtete. Später würde der Platz vor Farben und Düften pulsieren, aber jetzt, im grauen Licht, hatten selbst die Kupferböden der Töpfe die weiche, unbestimmte Farbe von Asche. Gaia hielt den Kopf gesenkt und half Mace.
»Wann, glaubst du, wird Schwester Khol kommen?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht. Aber wir haben einen guten Platz erwischt. Denk daran, bring deine Mutter leise zu uns herunter«, sagte Mace und erinnerte sie an den Plan, auf den sie sich schließlich verständigt hatten. »Wenn du ganz natürlich nach draußen gehst, kann
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