The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder
überreden, ihr noch einmal mit den Bänken zu helfen, aber Myrna, die trotzig sitzen blieb, widersprach mit leiser, scharfer Stimme. »Du bringst uns alle in Gefahr mit deinen närrischen Spielen.«
»Aber wir könnten entkommen«, sagte Gaia.
» Du könntest entkommen«, korrigierte Myrna. »Oder du könntest auf der anderen Seite zu Tode stürzen. Selbst wenn du aus den Decken eine Strickleiter bastelst, wie du wahrscheinlich vorhast, könnten wir nicht alle zum Fenster hochklettern, einige von uns würden auch gar nicht durchpassen. Und sobald die Wachen deine Flucht bemerken, richtet man uns als deine Komplizinnen hin.«
Gaia hatte sich umgesehen und die Wahrheit in den Augen der anderen Frauen erkannt. Sie war sich sicher, dass sie entkommen würde. Aber wie könnte sie die anderen in Gefahr bringen?
»Zum Glück hast du noch nicht ganz den Bezug zur Wirklichkeit verloren«, murmelte Myrna, als Gaia sich wieder hinsetzte – die Augen auf das Fenster über sich gerichtet, während ihre Träume allmählich zu Staub zerfielen.
»Ist schon gut«, sagte Cotty leise und rückte etwas näher, um ihr übers Knie zu streicheln. »Wir finden einen anderen Weg nach draußen. Wenigstens hast du uns etwas zum Nachdenken gegeben.«
Oder ein paar hoffnungslose Träume , dachte Gaia.
Die nächsten Tage hörten sie nichts von Sephie oder Gaias Mutter, weder durch die Wachen noch durch die Leute, denen sie auf ihren Patientenbesuchen außerhalb des Gefängnisses begegneten. Gaia wachte nachts häufig auf und konnte nicht wieder in den Schlaf finden vor lauter Kummer um ihren Vater und Sorge um ihre Mutter. In der einsamen Dunkelheit versuchte sie, sich mit Erinnerungen an glücklichere Zeiten außerhalb der Mauer zu trösten – Kleinigkeiten, wie die Spiegeleier und das Honigbrot, die sie und ihr Vater der Mutter zum Geburtstagsfrühstück gemacht hatten -, doch die Bilder lösten sich auf, bis da nur noch das Geräusch von Cottys Atem im Bett gegenüber blieb. Dann begannen ihre Gedanken wieder um Flucht zu kreisen, bis sie kurz vor Tagesanbruch von Erschöpfung übermannt wurde und in einen unruhigen Schlaf fiel.
Wochen vergingen, in denen Gaia Myrnas Assistentin wurde und häufig ihre spitze Zunge zu spüren bekam. Doch Gaia beklagte sich nicht. Die Arbeit lenkte sie ab, und immer, wenn sie das Gefängnis verließ, hoffte sie, Neuigkeiten von ihrer Mutter zu hören.
Zweimal wurden sie am Zaun vor dem Gefängnis aufgereiht, um Hinrichtungen beizuwohnen: Einem Mann wurde vorgeworfen, eine Frau von draußen in die Enklave geschmuggelt zu haben, um sie als Prostituierte anzubieten; ein anderer sollte auf dem Schwarzmarkt Blut für seinen Sohn gekauft haben, der Bluter war. Es gab auch öffentliche Auspeitschungen, einmal für einen Jugendlichen, den man erwischt hatte, wie er sich ins Haus seiner Geliebten geschlichen hatte, und einmal für eine Frau, die in der Fabrik fahrlässig ein Fass Mycoproteine verunreinigt hatte. Gaia zuckte bei jedem Peitschenknall zusammen.
Es geschah aber auch Gutes. Hin und wieder brachte einer der Wachmänner den Ärztinnen Kleinigkeiten in die Zelle: ein Buch, ein kleines Glas Honig, ein Knäuel Wolle und neue Nadeln und ein anatomisches Schaubild.
Dann wurde wundersamerweise eines Tages eine Orange geliefert.
»Wie kann das sein?«, fragte Myrna und hob die in grünes Tuch verpackte Orange aus ihrer kleinen Schachtel. »Wer könnte uns so etwas schicken?«
Gaia griff nach dem orangefarbenen Ball und staunte über sein kühles Gewicht in ihrer Hand. Sie erinnerte sich daran, was Captain Grey gesagt hatte: Kooperieren mit der Enklave wurde belohnt. Es schien zu stimmen. »Vielleicht gehört dem Mann, den du gestern zusammengeflickt hast, ein Orangenbaum«, schlug sie vor.
Myrna fand eine Karte in der Schachtel und hielt sie ins Licht, weitsichtig wie sie war, musste sie ihren Kopf beim Lesen etwas zurückneigen. »Sie ist für dich. Gaia Stone, Zelle Q . Hier steht aber nicht, von wem sie ist.«
»Für mich?«, fragte Gaia verblüfft, nahm die Karte und grübelte beim Anblick der kleinen, engen Handschrift. »Könnte sie von Sephie stammen? Hat man sie vielleicht doch freigelassen?«
Cotty griff nach der Orange, Gaia reichte sie ihr und sah zu, wie die ältere Frau andächtig daran roch. »Wen kümmert’s, woher sie stammt«, sagte Cotty. »Es ist eine Orange. Ich habe seit Jahren keine mehr gegessen.«
Gaia lachte. »Na, dann wollen wir das ändern.« Wie einen Schatz, den sie
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