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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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Schwerindustrie und ist von Bergen umgeben, und sie wirkt auf mich wie ein alter, ruppiger Bekannter, den ich beimRauchen in der Telefonzelle erwischt habe. Ich weiß, eigentlich ist sie gar nicht so schlimm.
    Ich war vor zwei Jahren schon einmal hier. Damals kam ich mit dem Zug aus Pingliang und war wie besessen von Wassermelonen. An einer Straßenkreuzung saß ich und aß und aß, bis es mir süß vom Kinn tropfte und der Abendstaub sich über die Häuser legte wie ein graubrauner Schleier.
    Diesmal empfängt mich Lanzhou mit einem toten Schwein. Es liegt unter einer Brücke, grau und aufgedunsen und von Tragik umwölkt. Fast hätte ich es übersehen, doch ich blicke aus Gewohnheit von jeder Brücke hinunter – es könnte ja eine Nachricht dort unten für mich sein. Ich sehe das Schwein, und es dauert einen Moment, bis ich mich darüber wundere, warum nicht einmal die Hunde seinen Kadaver angerührt haben.
    Wo sind jetzt die Orchideen?
    Im Wörterbuch steht, dass das Zeichen Lan auch »anmutig« oder »elegant« bedeuten kann. Juli sagt, nur Ausländer würden bei chinesischen Ortsnamen an die ursprüngliche Bedeutung der Wörter denken. Hamburg sei für mich ja schließlich auch keine Burg und Frankfurt keine Furt, oder?
    Und dann, völlig unerwartet, ist Lanzhou da. Ich stolpere auf einem Abhang herum und versuche nicht hinzufallen, und mit Schrecken erkenne ich, dass die Stadt eigentlich nicht wie ein Raucher in einer Telefonzelle ist, sondern eher wie ein Fabrikschlot unter einer Käseglocke. Ihr Atem ist die Pest. Ich muss an die Innenstadt von Los Angeles denken und hüstele affektiert: Hello, Lanzhou!
    Doch sie ist anders als ihre stinkigen Kolleginnen im Westen. Sie wächst immer weiter. Die Regierung sprengt Löcher in die Berge um sie herum, nur um ihr etwas Luft zum Atmen zu verschaffen, und trotzdem baut sie sich immer mehr Betongebäude dazu. Mittlerweile sind es so viele, dass es einen wie mich fast erschlägt. Ich bin über die Berge gekommen und habe mich über jedes winzige Dorf gefreut, und jetzt das.
    Während ich mich durch die Innenstadt schleppe, färbt dieAbendsonne sie golden. Sie tut ihr damit einen Gefallen, denn zumindest ihr früherer Name passt jetzt ein bisschen besser zu ihr, Goldstadt. Ich erkenne eine Fußgängerbrücke, die ich schon einmal fotografiert habe. Damals war sie von Rohbauten umgeben, heute ist alles zu glänzender Hochhausfassade geworden. COMPUTERSTADT LANZHOU steht auf einem Gebäude, und darunter hängen Plakate von Laptops und Mobiltelefonen. Menschen sausen herum. Alles ist schreiend bunt.
    Nur die Obdachlose nicht. Sie liegt auf der Brücke, die Glieder verdreht wie ein Fragezeichen, vor sich eine Schüssel mit ein paar Geldscheinen darin. Ich weiß, Lanzhou ist ein Anziehungspunkt für den Westen des Landes, und fast nirgendwo in China gibt es so viele gestrandete Existenzen wie auf den Straßen dieser Stadt. Und doch ist es ein Schock für mich nach dem ländlichen Idyll aus Schafherden und Dörfern in den letzten Tagen.
    Ich bin fast dreißig Kilometer gelaufen und todmüde, doch kein Hotel will mich einlassen. »Es geht um Ihre eigene Sicherheit«, flötet die erste Rezeptionistin, und ich winke ab, denn ich weiß längst, was sie meint. In der Hauptstadt hängt zwar überall der Olympiaspruch »Eine Welt, ein Traum«, aber hier draußen, mehr als zweitausend Kilometer entfernt, benötigen Gasthäuser noch immer eine offizielle Berechtigung, um Ausländer zu beherbergen. »Es ist nur zu Ihrer Sicherheit«, versichert mir auch die zweite Rezeptionistin, und während sie entschuldigend lächelt, beginne ich mich über Lanzhou zu ärgern, über diesen tumben Riesen des Hinterlands.
    Erst nach mehreren Anläufen habe ich endlich Glück. Ich bekomme ein Zimmer im zehnten Stock, aus dem Fenster kann ich in der Dunkelheit die Schatten der Berge sehen. Ich stecke das Internetkabel in den Laptop und suche nach einem Ticket nach München. Am 5. Mai gibt es eines, das bezahlbar ist, bis dahin ist es noch fast eine Woche. So lange werden wir es wohl noch miteinander aushalten müssen, die Stadt und ich.
    »Und jetzt unterbrichst du deinen Plan und fliegst für das Mädchen zurück?« Bruce Lee, wie ich mein Gegenüber wegen seines Pottschnitts getauft habe, stellt sein Glas auf dem Tisch ab und grinst. »Bist du dir sicher, dass du danach überhaupt noch weiterlaufen willst?«
    »Vielleicht hat er sich ja gar kein Rückflugticket gekauft?«, fällt das Mädchen mit dem

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