The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
dort die olympische Fackel vorbeigetragen. Ob ich bis dahin dort sein kann?
Ich ziehe das GPS heraus: Es sind noch dreißig Kilometer.
Lehrer Xie hat ein China-Fähnchen in der Hand. Wir stehen vor dem mächtigen Bau des Jiayuguan-Hotels, es war das Einzige, das gestern Abend noch ein Zimmer frei hatte. Der halbe Parkplatz ist voller Polizeiwagen, sein Karren steht irgendwo dazwischen. Es ist sieben Uhr morgens, und die Straße vor dem Hotel ist schon voller Leute, die auf den Fackellauf warten. Lehrer Xie drückt mir grinsend eine Fahne in die Hand.
Eine lange Kette von Freiwilligen in grünen Hemden hat sich vor die Menge gestellt, um die Straße abzusperren, Polizisten patrouillieren auf und ab und geben Anweisungen. Pausbäckige Kinder werden von ihren Vätern hochgehoben, viele tragen rote Stirnbänder oder haben Aufkleber in Herzform an den Wangen. Ihre kleinen Gesichter sehen aufgeregt aus. Ob ich ihn auch auf die Schultern nehmen soll, damit er etwas sehen kann, frage ich Lehrer Xie, und er schimpft mich lachend aus.
Musik kündigt den ersten Wagen an: Er ist rot wie ein Cola-Truck und trägt eine Bühne, auf der kurz berockte Mädchen zu Technomusik herumhüpfen. Es ist ein bisschen schrill. Der Laster dreht eine Runde um die Verkehrsinsel, »Woohoo«, machen die Tänzerinnen, doch es ist nicht so interessant, dass wir nicht die Straße hinunterschielen würden, ob da nicht endlich die Fackelläufer kommen. Jeder will der Erste sein, der sie sieht.
Doch sie kommen nicht.
Niemand hat uns gesagt, dass wir an der falschen Kreuzung stehen. Nicht einmal die Hotelleitung hat davon gewusst, sonst hätten sie nicht gestern Abend noch extra jedes einzelne auf die Straße gehende Fenster verriegelt – »zur Sicherheit«.
Ich blicke mich um und sehe ein Meer der Enttäuschung. Es ist kein Geraune zu hören, keines der Kinder jammert oder weint. Einzig ihre Stirnbänder und Aufkleber sehen irgendwie verloren aus. Sind wir wirklich dafür alle so früh aufgestanden?
Ich mache ein Foto von einer alten Oma. Sie hat einen Herzaufkleber auf der Stirn und schwenkt zwei kleine Fähnchen. Sie sieht nicht enttäuscht aus, im Gegenteil. Sie gehört zu der Generation, die Maos Experimente durchleiden musste, die den Großen Sprung und die Kulturrevolution ertragen hat, und wahrscheinlich weiß sie, dass es nicht schlecht ist, wenn nichts passiert. Es könnte ja immer noch viel schlimmer kommen.
Ich lege mich schlafen, dann treffe ich Lehrer Xie in einer Fußgängerzone. Er sitzt auf einer Bank und streitet mit einem Mann im Anzug. Ich höre ihn schon von Weitem schimpfen: »Ich bin kein Idiot!«
Der Anzugträger fällt ihm ins Wort. »Doch, ein Idiot bist du! Warum arbeitest du nicht wie alle anderen auch? Wie lange ziehst du schon deinen Karren herum und lebst davon, was die Leute dir geben? Du bist nutzlos. Und ein Idiot!«
»Ich bin kein Idiot!« Lehrer Xie guckt mich an, er sieht peinlich berührt aus.
Ich lasse mich neben ihn auf die Bank fallen und sage zu dem Anzugträger: »Mein Lehrer ist kein Idiot.«
Der Mann guckt mich einen Moment lang erstaunt an, dann zeigt er mit dem Finger auf Lehrer Xie. »Der läuft nur herum und tut nichts!«
»Na und? Ich mache das auch so.«
Er sieht verwirrt aus. »Du … gehst auch zu Fuß?«
»Ja.«
»Aber du bist ein Journalist oder so etwas!«
»Ja, klar, alle Ausländer sind Journalisten!«
»Und wozu hast du die Kameras?«
»Ich mache gern Fotos.«
»Aber der«, trumpft er auf, »der macht keine Fotos, der läuft nur herum und liegt der Gesellschaft auf der Tasche!«
»Lehrer Xie ist ein Philosoph! Du verstehst gar nicht, was du für ein Glück hast, diesen Mann überhaupt treffen zu dürfen. Er hält Vorträge an Universitäten und hat Fans auf der ganzen Welt!«
Der Mann guckt Lehrer Xie entgeistert an, doch ich bin noch nicht fertig.
»Weißt du, was dein Problem ist? Du bist einfach noch nicht reich genug! Für dich ist es nur wichtig, ein Haus zu haben und ein Auto. Lehrer Xies Fans allerdings haben das alles schon. Deshalb finden sie ihn auch so toll.«
Der Mann schickt sich an, etwas zu sagen, doch dann gibt er auf.
»Vielleicht schafft es dein Kind irgendwann auf eine gute Universität«, trete ich nach, »dann kann es dir erklären, wen du hier getroffen hast.«
Er steht stumm da. Fast tut er mir ein bisschen leid.
»Noch irgendwas?«, frage ich.
Als der Mann verschwunden ist, zündet sich Lehrer Xie eine Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug.
Weitere Kostenlose Bücher