The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Glas ein.
Ich schaue auf die Uhr: Es ist kurz vor elf. Bald muss ich los, und ich habe keine Lust, mich zu unterhalten.
Die Frau stellt mir die üblichen Fragen. Alter? 27, dieses Jahr. Beruf? Student, wenn man so will. Verheiratet? Nein, aber Freundin. Wie lange in China? Fast drei Jahre. Wie finde ich es hier? Gut. Warum laufe ich? Aus Spaß.
Dann fällt ihr noch etwas ein. Es ist Lehrer Xies Lieblingsfrage, die ich schon von vielen Leuten gehört habe, von Alten und Jungen, von Männern und Frauen, von Hotelbesitzern und Reisegruppen am Wegesrand, von Leuten im Internet, von Friseurinnen und von Polizisten.
»Bist du nie einsam?«
Normalerweise antworte ich mit allgemeinen Erklärungen oder mit Floskeln. »Geht schon«, sage ich dann oder auch: »Ich habe doch ein Handy und kann immer jemanden anrufen.«
Doch das ist nicht die eigentliche Antwort.
Ich lasse den Blick über den Imbiss schweifen; über die milchigen Fenster, durch die das Licht einfällt, über das Poster mit dem Palmenstrand, über die Gäste, über den Chef mit seinem Bier und seinen lachenden Freunden.
Und dann sage ich wieder das, was ich immer sage: »Ist halb so schlimm.«
Eigentlich kenne ich das Gefühl der Einsamkeit schon seit Jahren nicht mehr. Egal, was ich tue, ich habe immer das Gefühl, zwei Menschen sind bei mir: mein leiblicher Vater, den ich nie kennengelernt habe.
Und Mama.
Es sind noch hundert Kilometer bis nach Shanshan. Der Wind hat nachgelassen, der Himmel ist wässrig blau, einige Wölkchenschweben wie kleine Boote darin. Die Wüste ist, wie sie immer ist: weit und leer. Ich laufe auf der Straße, dann auf einem neuen Stück Autobahn, das noch nicht für den Verkehr freigegeben ist, und eine Zeit lang ziehe ich die Kabutze über knirschenden Schotter.
Ich denke an Mama.
An die Silvesternacht im Wald, kurz nachdem sie gegangen war, als die Nächte so schlimm waren, dass ich mich morgens an nichts mehr erinnern konnte außer an die Angst.
An den Moment, in dem ich feststellte, dass zum ersten Mal ein ganzer Tag vergangen war, an dem ich nicht an sie gedacht hatte.
An Paris, an die Wanderung nach Hause, an das Studium in München, mit Chinesisch als zufälligem Fach und Rettungsanker.
An Beijing. An das Durcheinander aus Eindrücken und Eitelkeiten.
Ich hatte große Bücher gekauft, um mich belesen erscheinen zu lassen. Als ich Homer las, wunderte ich mich, dass alle Helden immerzu jammerten, wenn ihnen etwas zugestoßen war. Patroklos stirbt, Achilles flennt. Ein Held sitzt am Strand und kann nicht weinen, die Götter kommen und schenken ihm Tränen. Das Buch hatte über achthundert Seiten, und als ich damit fertig war, hatte ich das Weinen gelernt.
Ich übernachte in einer Reifenwerkstatt in der Wüste. Die Besitzer sind zwei Ehepaare aus dem Landesinneren. Sie sind aus der Provinz Shaanxi hierhergekommen, um Geld zu verdienen, denn das Leben ist teurer geworden, und die Kinder studieren an der Universität. Ich muss an Tante Hu in den Kohlebergen von Shanxi denken, an ihr Jesusbild und das Foto von ihrem Sohn, dem Studenten in Beijing.
Sie laden mich zum Abendessen ein, es gibt Nudeln und Kohl. Ein Generator brummt, das Wasser kommt aus einem großen Plastikfass. Ich frage, warum die Autofahrer ausgerechnet zuihnen kommen, um ihre Fahrzeuge reparieren zu lassen. Sie lachen. Kein Fahrer möchte in der Wüste mit einem kaputten Rad unterwegs sein, außerdem haben Reifenflicker aus Shaanxi im ganzen Land einen guten Ruf.
Ihre Heimat fehlt ihnen. Hier draußen ist es einsam, und der Boden ist nicht gut. Sie erzählen mir, dass sie versucht haben, Hunde zu halten, mehr als ein halbes Dutzend Mal. Jeder einzelne der Hunde hat irgendwann die Nahrung verweigert und ist eingegangen.
»Die Wüste ist feindselig«, sagen sie.
Als ich die Vororte von Shanshan erreiche, wartet am Straßenrand ein junger Mann auf mich. »Bist du Nono?«, frage ich ihn, und er nickt etwas linkisch.
Nono ist der Name einer unbekannten Person, die mir E-Mails geschickt hat, seit ich in Hami war. Wir schrieben uns auf Englisch und Chinesisch. Es ging um die Frage, ob ich mich einen Tag lang begleiten lassen würde. Ich antwortete, es sei mir gleichgültig. Ich wusste ja nicht einmal, ob Nono ein Mann oder eine Frau war.
Jetzt steht er vor mir, ein dünner Mann mit Brille, Hut und Rucksack, der mir die Hand entgegenstreckt. Er lächelt, und weil ich die Wüste endlich hinter mir gelassen habe und die Vorortstraße nach Essen duftet und
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