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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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weil die Abenddämmerung über uns golden und sanft ist, schüttele ich ihm die Hand und lächele zurück.
    Er heißt Wu Jiang und hat gerade ein Medizinstudium abgeschlossen. Er kommt aus Shaanxi, dort bin ich durchgelaufen, aber das weiß er schon. Er erzählt mir, wie glücklich er ist, es nach Xinjiang geschafft zu haben. Ich antworte ein paar höfliche Worte. Ich sage ihm nicht, dass ich insgeheim gehofft hatte, ich würde Besuch von einem jungen Mädchen bekommen statt von ihm. Vielleicht ist es ja auch besser so.
    Wir nehmen ein Hotelzimmer, dann landen wir in einem Imbissstand um die Ecke, in dem eine uighurische Familie Nang-Brote und Lammspieße grillt. Ich bestelle eine riesige Portion Spieße für uns, dazu Gurkenscheiben in Essig und eine Flasche Cola, dann lasse ich mich in einen Plastikstuhl fallen.
    Es riecht nach Grillfleisch. Mücken schwirren im Licht der Straßenlaternen herum, eine Gruppe Kinder spielt an einem abgewetzten Billardtisch. Wu Jiang sitzt mir gegenüber.
    »Erzähl!«, sage ich zu Wu Jiang.
    Er erzählt von seinem Studium und von seinem zukünftigen Beruf. Als Mediziner wird er viel Arbeit für wenig Geld machen müssen, aber das ist ihm nicht so wichtig. Er wusste schon immer, dass er Arzt werden wollte. Und noch eine andere Sache war ihm klar: Er wollte Xinjiang sehen, die großen Weiten und das wilde Land. Er wäre schon vor Jahren hierhergekommen, doch seine Familie erlaubte es ihm nicht.
    »Ich war vierundzwanzig Jahre lang brav und habe alles gemacht, was von mir erwartet wurde. Wenn meine Eltern gesagt haben, Xinjiang sei zu gefährlich, dann habe ich auf sie gehört.« Er lächelt. »Und dann habe ich im Internet dein Video gesehen.«
    Das Video. Seit dem ersten Tag meiner Reise habe ich meine Selbstporträts gemacht, frontal, die Kamera am ausgestreckten Arm auf mich gerichtet. Mittlerweile sind fast tausend Bilder zusammengekommen, ich habe sie grob zusammengeschnitten und ins Internet gestellt. Eine Rohfassung.
    Das Video war es also. Ich denke daran, dass ich unbedingt noch eine passende Musik finden muss, mit der ich es unterlegen kann.
    »Weißt du, was ich damals gedacht habe, als ich das zum ersten Mal gesehen habe?«, fragt Wu Jiang und grinst. »Ich habe gedacht: Wenn ein Ausländer zu Fuß durch Xinjiang gehen kann, warum sollte ich dann nicht zumindest mit dem Zug dorthin fahren können?«
    Ich ahne, was er sagen wird.
    Er wartete, bis er seinen Abschluss hatte, dann fing er an, mir E-Mails zu schreiben, und kaufte sich ein Zugticket nach Xinjiang, ohne seiner Familie etwas davon zu sagen. Mit seinemRucksack und seinem Hut fuhr er zum Bahnhof. Er rief erst zu Hause an, als er bereits im Zug saß.
    »Ich wollte zwei Dinge tun«, sagt er. »Xinjiang sehen und einen Tag lang mit dir zusammen laufen.«
    »Morgen hast du Gelegenheit, es sind dreißig Kilometer bis in die Stadt.«
    Er strahlt.
    Wir unterhalten uns noch lange an diesem Abend. Irgendwann kommen wir auf das Thema Freundinnen. Meine ist mit ihren Eltern in Europa unterwegs und hat sich seit Tagen nicht mehr gemeldet, seine ist ihm gerade abgehauen.
    Es ist eine komplizierte Geschichte, in der alles gegen die Verbindung der beiden spricht: Sie sind räumlich voneinander getrennt, ihre Familien sind gegen die Beziehung, sie haben weder Geld noch Zeit füreinander, und am Ende kommt auch noch ein Nebenbuhler hinzu. Wu Jiang hat sie noch einmal gesehen, vor ein paar Tagen in Xi’an, dann ist er mit dem Zug nach Xinjiang gefahren.
    »Vielleicht musst du sie vergessen«, sage ich, und ich finde selbst, dass es sich schrecklich anhört. Er nickt und wird still.
    Als ich am nächsten Morgen aufwache, sitzt er auf seinem Bett und schreibt Tagebuch. Ich freue mich, ihn zu sehen, so wie ich mich damals gefreut habe, als Zhu Hui bei mir war. »Los?«, frage ich. Wir packen die Kabutze, ich schnalle Wu Jiangs Rucksack obendrauf fest, so wie Lehrer Xie es damals mit meinem machen wollte. Dann sagen wir den Hotelbesitzern und der uighurischen Familie vom Imbiss Lebewohl. Wir laufen los, durch die Morgenluft von Xinjiang, der Oasenstadt Shanshan entgegen.

DIE FLAMMEN
    Sand. Ich bin froh, dass ich nur zum Spaß hier bin. Meine Füße sinken ein, mit jedem Schritt nach oben rutsche ich ein kleines Stück nach unten. Ich kann fühlen, wie der Boden sich unter meinen Zehen verschiebt. Er ist nicht so heiß wie damals in den Singenden Dünen von Dunhuang, aber da war ja auch August, und jetzt ist Oktober.
    Als ich auf dem

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