The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Kamm der Düne ankomme, steht mir der Schweiß auf der Stirn. Ich breite meine Jacke auf dem Boden aus und lege meine Kameras und das Stativ darauf ab, die Kabutze habe ich zum Glück im Hotel gelassen.
Vor mir liegen gelbe, erstarrte Wogen: die Kumtag. Das Wort kommt aus den Turksprachen und bedeutet »Sandberge«, und es stimmt, es sind wirklich Gebirge aus Sand, die sich über eine derart große Fläche erstrecken, dass es mir Angst macht.
Hinter mir liegt die Oasenstadt Shanshan. Ich kann weit über sie hinwegblicken. Ich sehe ihre Bäume, ihre Häuser, den Platz in ihrer Mitte, um den sich die höchsten ihrer Gebäude versammelt haben wie Leute, die sich unterhalten wollen. Die Stadt ist mehrheitlich uighurisch, und wie so viele der Oasenstädte lebt sie hauptsächlich von der Landwirtschaft und vom Fremdenverkehr, von Obst und Baumwolle und von der Sandwüste, in die sich die Touristen mit Allradfahrzeugen wagen können.
Ich bin froh, dass ich es nicht durchqueren muss, das Sandmeer.
Ich brauche Straßen, Schotterwege, Trampelpfade und vor allem Menschen. Onkel Shen hat mir geschrieben. Er ist aus dem Krankenhaus in Ürümqi entlassen worden, man vermutet eine allergische Reaktion. Wu Jiang ist zurück in Shaanxi.
Wir sind unsere dreißig Kilometer gelaufen, haben zusammen Bohnen aus der Dose gegessen und von einem alten Bauern eine Melone bekommen, wir haben uns unterhalten und Witze gemacht, und als wir in Shanshan angekommen waren, habe ich ihn im Taxi zum Bahnhof gebracht.
Ich bleibe eine Weile auf meiner Düne sitzen, dann nehme ich meine Sachen hoch und entschließe mich, tiefer in die Wüste hineinzugehen. Ich habe das GPS dabei.
Ich gehe Dünen hinauf und wieder hinunter, spüre die unterschiedlichen Temperaturen des Sandes unter meinen Füßen, und irgendwann, nach einem Blick auf die Stadt, die sich in eine Nebelglocke gehüllt hat, habe ich ihn tatsächlich gefunden: den Platz, an dem ich wirklich nichts anderes sehen kann als die Wüste und den Himmel darüber.
Ich verlasse Shanshan im Regen. Die Kabutze läuft so rund wie schon lange nicht mehr, ich habe sie in einer Werkstatt generalüberholen lassen. Ich fühle mich ausgeruht. Zwei Tage lang habe ich nichts getan, außer zu essen und durch die Stadt zu spazieren. Ich habe Juli angerufen, sie ist wieder zurück in München und hat viel zu tun, wir werden später noch einmal länger telefonieren.
Abends komme ich in einer Kleinstadt an, die von Menschen nur so wimmelt. Es ist Markt, Waren werden verkauft und Angebote über die Straße gerufen. Ich ziehe meine Kabutze durch das Gewühl, und dabei ernte ich die gleichen Blicke wie sonst überall auf meinem Weg. Es ist egal, ob ich in den Bergen von Shanxi unterwegs bin oder in der flachen Gobi, in einem Marktflecken oder in einer Großstadt – manche Leute lachen, einige deuten mit dem Finger auf mich, andere tuscheln, ein paar sehen misstrauisch aus. Ich lächele freundlich und frage nach dem Weg zu einem Hotel.
Ich lande in einem Haus, in dem mir eine uralte Frau zu erklären versucht, dass sie zwar leere Zimmer hat, mich aber nicht unterbringen kann, aus einem Grund, den ich nicht verstehe. Als ich frage, ob sie nicht eine Ausnahme machen kann, bekomme ich eine Kerze und einen Schlüssel in die Hand gedrückt. Ich finde mein Zimmer, öffne die Tür, drücke ein paar Mal erfolglos auf dem Lichtschalter herum und setze mich aufdas Bett. Ein junger Mann mit einem Feuerzeug erscheint. Er zündet meine Kerze an und entschuldigt sich für die Unannehmlichkeiten, und während er redet, verstehe ich überhaupt erst, was los ist: Die ganze Kleinstadt hat keinen Strom, weil Wartungsarbeiten durchgeführt werden.
Die Kerze brennt.
Die Nacht fällt blau über den stromlosen Ort, draußen kommen Leute im Licht von Autoscheinwerfern zusammen, der Geruch von Grillfleisch dringt zum Fenster herein, und ich liege auf meinem Bett und schreibe Juli eine SMS, in der ich versuche, das Romantische der Situation zu beschreiben.
Dann schlafe ich ein.
Die uighurischen Nang -Bäcker brauchen zum Glück keinen Strom. Als ich am nächsten Morgen losgehe, bleibe ich am Straßenrand stehen und schaue einem jungen Mann dabei zu, wie er einen Teigfladen in der Luft dreht, bis er dünn und rund wird. Dann presst er ihn von innen an die Wand eines Lehmofens, wartet einen Moment und holt ihn wieder hervor. Es ist ein goldener, heiß dampfender Nang, und er gehört mir. Ich balanciere ihn in beiden Händen, während
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